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© Doris Spiekermann-Klaas

Nahverkehr: Begleitservice von Tür zu Tür

Beim VBB helfen ehemalige Langzeitarbeitslose bei Fahrten durch die Stadt. Das kostenlose Angebot richtet sich besonders an Senioren und Behinderte.

Um 7.30 Uhr herrscht in der Zentrale des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB) in der zehnten Etage des Hochhauses am Hardenbergplatz bereits hektische Betriebsamkeit. „Gestern Abend kam noch ein Auftrag rein, wir müssen sofort los“, ruft Andreas Gosch ning und zieht sich eine knallrote Jacke mit der Aufschrift „VBB-Begleitservice“ über. Sein Kollege Zdenek Klimes steht schon bereit. Wenige Minuten später sitzen die beiden Männer in der S-Bahn Richtung Osten.

Sie begleiten Menschen, die sich nicht auskennen, die viel Gepäck haben, die schon etwas älter oder aus einem anderen Grund nicht gut zu Fuß sind, durch den öffentlichen Nahverkehr Berlins. Im Oktober gab Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke) den Startschuss für das Projekt, das es in keiner anderen deutschen Stadt gibt. Der Bedarf ist da. Wer den kostenlosen Service in Anspruch nehmen möchte, ruft spätestens einen Tag vor der gewünschten Fahrt an und vereinbart den Termin. Die Route wird im Internet berechnet – barrierefrei, natürlich.

Als Andreas Goschning und Zdenek Klimes am Strausberger Platz ankommen, wartet Renate Brix mit ihrem Rollator an der Haustür. Sie ist 84 Jahre alt, normalerweise kommt sie nie weiter als bis zum Alexanderplatz. Doch heute muss sie ins Klinikum Benjamin Franklin nach Steglitz, wo ihre Augen untersucht werden sollen. „Bis vor drei Jahren habe ich noch gesehen wie ein Luchs“, sagt sie. Die beiden Männer helfen ihr beim Treppensteigen, sorgen dafür, dass sie in der proppevollen U-Bahn einen Platz bekommt, plaudern mit ihr. Sie kennen genau die richtige Mischung aus Distanz und Nähe: „Man weiß nie, wie gesprächig der Kunde ist“, sagt Goschning. „Manchmal schauen wir auch nur aus dem Fenster.“

Bei Renate Brix ist das anders. Zwischen den dreien funktioniert es sofort. Vielleicht liegt es daran, dass die alte Dame in ihrem Leben schon viele Grenzen überschritten hat. Nach dem Krieg flüchtete sie von Schwiebus östlich von Frankfurt (Oder) nach Schleswig-Holstein, nur um dann unter einem Kohlewagen versteckt zurück durch die sowjetisch besetzte Zone zu ihrem Ehemann nach Berlin zu fahren. Später lebten beide in Zehlendorf und Lichterfelde, übersiedelten aber noch vor dem Mauerbau nach Ost-Berlin, wo ihr Mann eine Stelle als Pfarrer annahm. Seit 17 Jahren lebt die Witwe nun an der Karl-Marx-Allee. Ihr Sohn hatte die Idee, sie könne es doch mal mit dem neuen VBB-Begleitservice versuchen. Auch Zdenek Klimes, 58, sind Grenzübertritte nicht fremd. Er flüchtete aus seiner Heimatstadt Brünn, als die Sowjets den Prager Frühling niederschlugen, hat als Steward auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet und kam 1975 als Kranführer nach Berlin, wo er zeitweise seine eigene Firma als Gas-Wasser-Installateur hatte. So verweben sich Lebensgeschichten in der U-Bahn.

Wer mit älteren Menschen unterwegs ist, sieht die Stadt anders. Alles dauert länger als gewohnt, der Alex wird plötzlich ein richtig großer Umsteigebahnhof, der nächste Aufzug bekommt strategische Bedeutung. Rolltreppen können sie nicht benutzen, da macht der Rollator nicht mit. Aber die Fahrt wird für Renate Brix zu einem schönen Ausflug. Das Kreuz auf der Kuppel des Domes funkelt in der Morgensonne, als die drei mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof fahren. Andreas Goschning und Zdenek Klimes haben den Fahrplanausdruck in der Hand.

Sie und ihre Kollegen sind monatelang geschult worden, wie sie am besten mit den Kunden umgehen, welche Rechte und Pflichten im öffentlichen Raum existieren, wie man in brenzligen Situationen deeskalierend handeln kann. 25 Begleiter sind zurzeit im Einsatz, demnächst sollen noch einmal 20 dazu kommen. Angestellt sind sie auf zwei Jahre, allerdings nicht beim VBB, sondern bei einem privaten Dienstleistungsunternehmen. Das Projekt zur Förderung von Langzeitarbeitslosen wird über Mittel der Sozialverwaltung, der Jobcenter und durch EU-Fördergelder finanziert. Für Andreas Goschning ist es eine Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen. Der 41-Jährige hat 22 Jahre im Lebensmittelbereich gearbeitet, war sogar Leiter mehrerer Filialen einer Berliner Supermarktkette , bevor er 2005 arbeitslos wurde. „Ich habe mir gesagt: Es muss doch auch noch was anderes geben als Handel.“ Jetzt ist er glücklich, weil er so viel Zeit mit Menschen verbringen darf. „Meine Freundin arbeitet in der Betreuung, die hat oftmals nur Minuten für jeden Kunden und beneidet mich.“

Dann kommt der Bus im Steglitzer Klinikum an. Andreas Goschning und Zdenek Klimes lotsen Renate Brix durch das Gebäude und bringen sie in die Abteilung für Augenheilkunde, wo sie sich verabschieden – nicht ohne der Sprechstundenhilfe die Karte mit der VBB-Telefonnummer zu überreichen, damit am Ende des Tages jemand zum Abholen kommt. In der Zentrale wartet schon der nächste Auftrag. Wer es ist, wissen sie vorher nicht. Bisher haben sie mit den Kunden immer Glück gehabt. „Eines Tages“, sagt Andreas Goschning lachend, „kommt mal so ein richtiger Knurriger. Aber das kriegen wir auch hin. Wenn wir den abliefern, hat er gute Laune.“

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