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Nahverkehr: Die Wut fährt mit in der S-Bahn

Mehr als 200 000 Fahrgäste pendeln täglich zwischen Berlin und Brandenburg. Sie müssen nun früher aufstehen, um pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen.

„Ohne Witz, wenn es jetzt gerade eine Fahrkartenkontrolle gäbe, ich glaube, die Kontrolleure würden massakriert“, sagt die Passantin am Bahnhof Friedrichstraße. Die Nerven vieler Fahrgäste liegen blank, schuld sind die chaotischen Verhältnisse bei der S-Bahn. Immer mehr von ihnen fehlt das Verständnis dafür, warum man für die S-Bahn überhaupt noch Geld bezahlen soll. „Die ganzen Leute, die Monatskarten gekauft haben, sollten langsam mal einen Teil ihres Geldes zurückbekommen“, sagt eine junge Frau, die jeden Tag von Pankow nach Kleinmachnow fahren muss. Sie hat sicherheitshalber ihr Fahrrad dabei, um ausgefallene Strecken schnell bewältigen zu können. Um nicht abhängig von einer Berliner Institution zu sein, zu der viele das Vertrauen verloren haben. „Das ist außerhalb jeder Vorstellungskraft, dass jetzt schon wieder Züge ausfallen“, sagt eine Frau, deren Mann für die tägliche Strecke von Hohen Neuendorf zum Platz der Luftbrücke nun eine Stunde länger braucht. „Ich hätte nie geglaubt, dass so was in Berlin geschehen könnte.“

Täglich pendeln 168 000 Brandenburger nach Berlin, umgekehrt fahren 65 000 Berliner nach Brandenburg zur Arbeit – Tendenz laut statistischem Landesamt steigend. In drei Wochen beginnt die Vorlesungszeit an den Universitäten, dann nutzen auch wieder viele Studenten die S-Bahn, um nach Potsdam zu gelangen. Stärker wird auch die wirtschaftliche Verzahnung zwischen den beiden Bundesländern. Viele Pendler haben eine Jahreskarte der S-Bahn. Sie sind auch im Vertrauen auf die öffentlichen Verkehrsmittel ins Umland gezogen.

Der Biologe Stefan Kempa zum Beispiel fährt jeden Morgen mit der S 7 von Griebnitzsee nach Buch. „Normal fährt man etwa 50 Minuten. Jetzt ist das ein Abenteuer, meistens fährt die S-Bahn nicht. Die Regionalbahn fährt zwar, aber dafür nicht pünktlich. Anschlüsse funktionieren sowieso nicht.“ Zurzeit braucht er ungefähr doppelt so lang, um zur Arbeit zu kommen. Seiner Meinung nach ist der gegenwärtige Zusammenbruch der S-Bahn nur eine logische Folge von Einsparungen: „Man kann ein System bis zu einem gewissen Grad auspumpen und dann wird man die schwächste Stelle, die Sollbruchstelle, erkennen. Das ist, was wir gerade erleben.“

Ganz unvorbereitet trifft das Chaos die Pendler allerdings nicht: Nach dem BVG-Streik im vergangenen Jahr, den ständigen Ausfällen bei der S-Bahn in diesem Jahr haben sie gelernt, mit der Misere zu leben. Und kommen trotzdem pünktlich zur Arbeit. „Die Berliner sind sehr flexibel und stellen sich schnell auf neue Situationen ein“, heißt es etwa bei Siemens in Spandau. „Hier herrscht normaler Betrieb.“

„Jeder Angestellte kennt inzwischen den für sich besten Weg, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen“, heißt es beim KaDeWe in der Tauentzienstraße. Aber nicht überall läuft es so glatt. Die Unternehmerin Gabriele Köstner von der Neuköllner Müller-Zeiner GmbH ist wütend: „Warum unternimmt der Senat denn nicht endlich was?“ Dass etwa ein Drittel ihrer Mitarbeiter durch das S-Bahn Chaos verspätet zur Arbeit erscheinen, sei eine Sache. Aber inzwischen habe ihr Unternehmen, das Industrieverpackungen herstellt, auch finanzielle Einbußen. „Unsere Lieferfahrzeuge stehen auf den verstopften Autobahnen bis zu einer Stunde im Stau.“ Eine Lkw-Stunde koste ihr Unternehmen bis zu 80 Euro. Bei den sieben Lieferwagen, die an Kunden aus der Pharmaindustrie und dem Maschinenbau in der ganzen Stadt lieferten, seien das Ausfälle von 400 bis 500 Euro am Tag. „Das sind Ausgaben, die ich nicht aufs Produkt umlegen kann. Und das in Zeiten der Wirtschaftskrise.“

Erst jetzt fällt auf, wie viele Existenzen von einem reibungslosen Bahnverkehr abhängig sind: Die Einzelhändler in den S-Bahnhöfen beispielsweise. In Katja Guhses Reformhaus am Bahnhof Zoo haben die wenigen Kunden nun viel Platz in den Gängen: „Die Pendler und Bürodamen kommen nicht, wenn sie nicht mit der S-Bahn zur Arbeit fahren“, sagt Teamleiterin Katja Guhse. „Das macht sich natürlich sofort bei den Einnahmen bemerkbar.“ Die Hälfte ihrer Kundschaft, sagt sie, fehle. Der einzige, der am Hardenbergplatz durch das Chaos gewinnt, ist der Eisstand vorm Reisezentrum. „In den ersten beiden Tagen lief das Geschäft bombig“, sagt der Verkäufer. Bis zu 50 Prozent mehr Umsatz. „Die Leute haben sich alle mit einem Eis getröstet, als sie vor den abgesperrten Treppen standen.“

Daniel Stender, Susanne Thams

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