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Die gelbe Gefahr: Das Berliner S-Bahnnetz ist derzeit ziemlich löchrig. Die S75 von und nach Wartenberg ist eine von vier Linien, die gar nicht fahren.

© S-Bahn/Tso

Update

S-Bahn koppelt Pendler ab: "Wir sind ja Kummer gewohnt"

Die Notlage bei der S-Bahn hat sich verschärft: Vier Linien sind ganz eingestellt, im Berufsverkehr gibt es starke Behinderungen. Viel Ärger zum Auftakt des Schienenersatzverkehrs in Hennigsdorf.

Vor dem S-Bahnhof Hennigsdorf könnte am Montagmorgen Urlaubsstimmung aufkommen. Moderne Reisebusse werben in großen Lettern jedenfalls für Fahrten an die Ostsee, an das Stettiner Haff oder für das Weimarer Land. Doch die in der Kälte wartenden Menschen kann der Komfort in den Fahrzeugen nicht gütlich stimmen. Sie wollen schließlich nur auf dem kürzesten Weg nach Berlin und müssen sich jetzt mit dem Schienenersatzverkehr herumplagen. Die S-Bahn hat die nordwestliche Vorstadt komplett aus ihrem Angebot gestrichen. Die nun in ganz Deutschland georderten Busse fahren nur bis zum U-Bahnhof Alt-Tegel oder bis zum S-Bahnhof in Wilhelmsruh, wo die Fahrgäste wieder umsteigen müssen. Mit bis zu 40 Minuten dauert die Fahrt auf der Straße jetzt die doppelte Zeit, wobei kurze Anschlüsse zur ebenfalls nur eingeschränkt verkehrenden S 1 ins Stadtzentrum gar nicht möglich sind.

„Wo soll ich jetzt mit dem Kinderwagen hin?“, fragt eine Mutter den Fahrer des großen „Ostseereise“-Busses aus Wismar. Der schüttelt den Kopf und kann nicht helfen. „Bei mir passt er nicht rein.“ Die Frau schaut verzweifelt auf die Uhr und muss doch auf den nächsten Bus mit einer breiten Tür warten. Weitere 20 Minuten vergehen. Radfahrer haben erst gar keine Chance.

Bahnmitarbeiter zucken nur mit den Schultern

Den größten Frust der Fahrgäste versuchen zwei ältere Angestellte der Bahn AG abzufangen. Sie weisen freundlich auf die abwechselnd nach Tegel und Wilhelmsruh abfahrenden Ersatzbusse hin und können doch die am häufigsten gestellte Frage nicht beantworten: „Wie lange soll das Chaos noch dauern?“ Schulterzuckend weisen die beiden Bahnmitarbeiter auf „Berichte in den Medien“ hin.

Die vom S-Bahnsteig ausgesperrten Fahrgäste machen sich ihre eigenen Gedanken und „sehen für die Zukunft schwarz“, wie es allenthalben heißt. Ein Busfahrer aus dem Ücker-Randow-Kreis in Vorpommern erzählt, dass die S-Bahn für die Miete des Busses pro Tag 600 Euro zahlen müsse. Dazu kommen die Einbußen an den Ticketverkäufen. Sämtliche Busse im Schienenersatzverkehr fahren notgedrungen für die Reisenden kostenlos. Es gibt schließlich gar keine Entwertungsmöglichkeiten für die Fahrkarten, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, Tickets beim Fahrer zu erwerben. Dabei liegt Hennigsdorf sogar im ABC-Bereich.

Dieser finanzielle Vorteil kann den Ärger über den Ausfall der S-Bahn aber kaum dämpfen. Berufspendler mussten auf ihr Auto zurückgreifen oder sich mit Kollegen zu Fahrgemeinschaften verabreden. Das war insbesondere beim Hennigsdorfer Schienenfahrzeugproduzenten zu hören. Zahlreiche Beschäftigte dieses Werks wohnen Berlin. Andere stiegen auf das Taxi um oder liehen sich ein Auto aus.

Warten in Wartenberg

Im Tunnel am S-Bahnhof Wartenberg irren am frühen Montagmorgen noch einige Fahrgäste umher. Die Unterführung ist nicht abgesperrt, die Gleise sind es dann schon. Schilder an den Aufgängen weisen darauf hin, dass die S-Bahn hier nicht mehr fährt und dass vom S-Bahnhof Hohenschönhausen aus die M4 als Ersatz empfohlen werde. Was die Leute hier in Wartenberg machen sollen, das sagen die Schilder nicht. Darauf weisen aber ein freundlicher Herr in Bahnuniform und eine freundliche ältere Dame im Kabuff am Eingang hin. Sie erklärt, was zu tun ist: Mit dem Bus nach Hohenschönhausen, von da aus mit der M4 zum Alex - oder gleich von Wartenberg aus zur M4 laufen.

Ob es dafür einen Preisnachlass gebe, fragt ein Fahrgast, "ich dachte, es wird billiger, wenn die Bahn nicht fährt." Davon weiß die freundliche Dame nichts. "Ich kann doch auch nichts dafür", schiebt sie nach. "Sie nicht, aber Ihr Chef", sagt der Fahrgast. Die S-Bahnerin ist sichtlich betrübt: "Ich finde es ja auch nicht schön, gerade weil es unsere Linie ist." Die S75 von und nach Wartenberg ist eine von vier Linien, die seit Sonntag nicht mehr bedient werden. Die Pendler sind abgekoppelt.

"Seit zwei Jahren verfügt die S-Bahn über meine Freizeit"

Am S-Bahnhof Hohenschönhausen ist alles verrammelt: Gitter vor dem Eingang, sogar der Bahnhofsname wurde mit einem Tuch verhängt, als ob das Unternehmen alle Spuren seiner Schmach tilgen wolle. Die Botschaft ist deutlich: Hier fährt nichts mehr. Wer von hier in die Innenstadt zur Arbeit will, muss auf die Tram ausweichen.

An der Haltestelle der M4 versammeln sich die S-Bahn-Versprengten. Im Gespräch klingt immer wieder derselbe Fatalismus an, Tenor: Wir sind ja Kummer gewohnt. "Ich gehe hier jeden Morgen sowieso erst einmal auf die Brücke und schaue, ob die S-Bahn fährt", sagt ein Bauingenieur, der zum Kurfüstendamm muss. "Wenn nicht, steige ich in die Tram." Irgendwie habe es ja bislang immer geklappt, sagt ein anderer Fahrgast. "Dass es jetzt ganz dicht ist, ist aber neu. Ich versuche es jetzt mal mit der Tram."

Grundsätzlich scheinen die Pendler gut informiert - aus Erfahrung. "Das ist ja nichts Neues, seit zwei Jahren verfügt die S-Bahn über meine Freizeit", sagt eine Frau, die aus Hohenschönhausen zur Friedrichstraße muss. "Wer darauf angewiesen ist, der informiert sich auch", sagte ein anderer Fahrgast.

Notfahrplan weiter ausgedünnt

Lange Wartezeiten, volle Bahnsteige, die wenigen noch rollenden Züge ebenfalls voll - das wird auch in den nächsten Tagen und Wochen so bleiben. Mit Betriebsbeginn hatte die S-Bahn vier Strecken stillgelegt. Nach Spandau, Wartenberg, Strausberg Nord und Hennigsdorf fahren bis auf Weiteres keine S-Bahnen mehr. Was am heutigen Montag im Berufsverkehr erst los sein wird im Nahverkehr, ist kaum vorstellbar. „Etwa 200 Viertelzüge“ seien noch fahrbereit, teilte die Bahn zur Begründung mit. Früher waren tagsüber bis zu 562 dieser Doppelwagen im Einsatz, 632 gibt es insgesamt. Der Notfahrplan vor dem Wintereinbruch ging von 434 Viertelzügen aus.

Demnach kann nun, einen Monat nach Wintereinbruch, nicht einmal mehr die Hälfte des Notfahrplans gefahren werden. Bahn-Experten spekulierten gestern, dass am Montag noch deutlich weniger als „etwa 200“ im Einsatz sein werden. Nach Angaben einer Bahn-Sprecherin waren es gestern angeblich 213.

"Was die Herren in Nadelstreifen vorhaben"

Neben dem seit Wochen immer dünner werdenden Takt wurden gestern nun erstmals seit 2009 wieder Strecken ganz gesperrt. Wie lange das anhalten soll, sagt die Bahn nicht, „bis auf Weiteres“. Ein S-Bahner erklärte am Sonntag ratlosen Fahrgästen: „Eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen. Ich weiß es nicht. Keine Ahnung, was die Herren in Nadelstreifen vorhaben.“ Der Eisenbahner war damit beschäftigt, Fahrgäste vom S-Bahnsteig zu holen. Hinweise und Durchsagen gab es nur auf Deutsch. Wieso die Bahnsteige auf den stillgelegten Abschnitten nicht einfach zugesperrt worden sind, konnte die Bahn gestern nicht sagen. Entsprechend empört über seine Arbeit schimpfte der Eisenbahner lauthals weiter: „Ich bin seit 40 Jahren im Betrieb. Früher sind wir gefahren, im Sommer und im Winter. Das hier ist ein Armutszeugnis. Das macht keinen Spaß mehr.“ 

Ein S-Bahner verwies in Spandau die Fahrgäste auf die U7 der BVG und die drei Regionalzüge, die pro Stunde bis Hauptbahnhof fahren. ICE-Züge zum Hauptbahnhof sind nicht freigegeben mit normalen VBB-Tickets. Ab dem kommenden Wochenende will die BVG ausgerechnet auf dem Abschnitt von Spandau nach Richard-Wagner-Platz abends bauen, die U-Bahn-Züge sollen dort dann nur noch alle 20 Minuten pendeln. Dies kündigt die BVG auf ihrer Internetseite an.

Noch deutlich schwieriger ist die Situation künftig an der  Strecke nach Hennigsdorf und nach Wartenberg. Im Norden fahren Ersatzbusse (mit der doppelten Fahrzeit) zu den U-Bahnhöfen Tegel (U6) und Paracelsusbad (U8). Nach Wartenberg und Hohenschönhausen vertröstet die S-Bahn etwa 100.000 Menschen auf die Straßenbahn der BVG. Lichtenbergs Baustadtrat Andreas Geisel schimpfte gestern: „Die S-Bahn versagt völlig. Hohenschönhausen ist vom Zugverkehr abgeschnitten.“ Der von der Bahn genannte Ersatzverkehr mit Tram und wenigen Regionalzügen sei „völlig unzureichend“.

Elektronischer Fahrplan führt in die Irre

Zuvor hatten der Spandauer Bezirksbürgermeister und die Verantwortlichen in den Rathäusern von Hennigsdorf und Strausberg das Verhalten der S-Bahn scharf kritisiert. Wie berichtet, ist die BVG aus Mangel an Personal und Fahrzeugen nur zu minimalen Verstärkungen des Angebots in der Lage. Bekanntlich kämpft auch die BVG vor allem im Busbereich mit Ausfällen.

Planbar sind Fahrten in Berlin nicht mehr. Denn die elektronische Fahrplanauskunft geht unverdrossen vom normalen S-Bahn-Angebot aus. Die S-Bahn warnt deshalb vor dem Gebrauch.

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