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Berlin: Verkehrsprojekt: Unter Zugzwang

Horst L. macht es sich gerne auf seinem Balkon bequem.

Horst L. macht es sich gerne auf seinem Balkon bequem. Vom vierten Stock eines Altbaus in der Tegeler Straße hat er einen tollen Blick auf die Stadt. Zum Sonnenuntergang erscheint die Skyline vom Lehrter Bahnhof im Süden bis zum Kraftwerk Reuter im Norden in goldenem Licht. Voriges Jahr wurde dem Ehepaar L. ein 570 Meter langer Betonriegel ins Panorama geschoben: Eine auf Stelzen errichtete Brücke, über die in wenigen Jahren ICE-Züge vom neuen Lehrter Zentralbahnhof auf den so genannten Nordring gelangen sollen.

Der "Overfly", so heißt diese längste Eisenbahnbrücke der Stadt, beschreibt von Süden aus eine riesige Kurve und führt wenige Meter entfernt am Wohnzimmer des 63-Jährigen vorbei. "Das kann man nicht ändern", sagt Horst L., der seit seinem sechsten Lebensjahr an der Tegeler Straße lebt. Er glaube nicht, dass er von den Intercity besonders viel mitbekommen werde. Die Technik werde immer leiser und auch an die S-Bahnen, die vor Jahren unweit seiner Wohnung über den Nordring ratterten, habe er sich damals gewöhnt. Grafik: Der "Overfly" Nördlich des Lehrter Bahnhofs ist in den letzten Monaten ein riesiger, kurioser Verkehrsknoten entstanden. Frühestens ab 2006 werden dort die Fernbahnzüge aus dem Nord-Süd-Tunnel an die Oberfläche stoßen. Geplant ist zudem eine neue S-Bahn-Trasse, die ebenfalls Nordring und Lehrter Bahnhof verbindet. Die S 21 soll - auch auf Stelzen - unter dem ersten "Overfly" gebaut werden. Quer zum Trassen-Knäuel verläuft die gerade neu eröffnete Perleberger Brücke, die täglich von 27 000 Fahrzeugen überquert wird. Aber nicht jeder Anwohner des Areals nimmt die Aussicht auf Zugverkehr im Minutentakt so gelassen hin wie Horst L.. "Was soll der Mist", sagt der griechisch-stämmige Siaban Siaban, der mit seiner Familie auf der gegenüberliegenden Seite des Bahngeländes in einem Neubau lebt - ebenfalls nur einen Steinwurf vom "Overfly" entfernt. Wenn die Schnellzüge an seiner Wohnung vorbeirauschten, werde es mit der Ruhe endgültig vorbei sein. Schon die Bauarbeiten hätten ihn genervt, erzählt der Schichtarbeiter. Tagsüber habe er kaum schlafen können. In vielen Wohnungen in der Häuserzeile an der Lehrter Straße 38 bis 45 hätten die Arbeiten an der Trasse zudem zu Rissen im Mauerwerk geführt. "Ganz schön nah dran", sagt auch Siabans Nachbar Hendrik Peters. Der "Overfly" verläuft direkt vor dem Küchenfenster seiner Wohnung im dritten Stock. Mit der geringen Distanz zur Fernbahntrasse habe er beim Einzug 1996 nicht gerechnet. Beim Vermieter, der Wohnungsbaugesellschaft Gehag, heißt es jedoch, dass ein Passus in den Mietverträgen auf die Bahntrasse hinweist. "Wir wollten uns im Vorfeld absichern", sagt Gehag-Sprecher Henryk Tabaczynski. Und die Bahn verweist auf die Lärmschutzbestimmungen, die eingehalten würden, auf Schallschutzwände und Isolierfenster. Peters schließt indessen nicht aus, dass er umzieht, wenn die ersten Züge rollen.

Unweit des Gehag-Neubaus, im Betroffenen-Laden Lehrer Straße, wird der Protest gegen das Verkehrsprojekt professionell organisiert. Der Stadtteilladen gehört zu den rund 50 Initiativen der "Anti-Tunnel-GmbH", die seit Jahren gegen den Lehrter Bahnhof, den in einem Zuge mitgeplanten Tiergartentunnel und die U-Bahnlinie 5 kämpfen. Ihre Kritik richtet sich gegen das zentralistische Verkehrskonzept der Bahn. Sie befürchten, dass der neue Autotunnel dem Tiergarten das Wasser abgräbt und dass er zusätzlichen Verkehr in Wohngebiete lenkt. Mitte der 90er Jahre, während der Bürgerbeteiligung, erreichten die Proteste der Initiativen ihren Höhepunkt. 18 500 Stellungnahmen zum Planungsverfahren wurden damals eingereicht, erinnert sich Susanne Torka vom Betroffenenladen. Sie mündeten in etlichen Klagen. Durchschlagenden Erfolg hätten sie nicht erzielt. Das letzte Verfahren eines Anwohners sei 1997 mit dem Tod des Klägers eingestellt worden.

Heute läuft der Kampf auf Nebenschauplätzen: Er richtet sich zum Beispiel gegen das geplante Einkaufszentrum im künftigen Zentralbahnhof. Tunnel und Trasse sind im Rohbau fertig, von Protest ist - zumindest nördlich des Lehrter Bahnhofs - nicht mehr so viel zu spüren. Ab und zu melden sich bei Susanne Torka und ihren Mitstreitern noch Bürger, die unter dem Baulärm leiden. In der südlichen Lehrter Straße haben die Bewohner einiger Häuser Mietminderung erreicht. Mittlerweile lädt der Stadtteilladen zusammen mit der Bahn zu Informationsveranstaltungen. Als über Nachtbauarbeiten informiert wurde, waren etwa 80, zuletzt, als es um den Abriss des alten Lehrter S-Bahnhofs ging, gerade noch ein Dutzend Interessierter da. Zur Zeit der Bürgerbeteiligung hätten etliche Anwohner die Dimension des Verkehrsprojektes "noch nicht realisiert", heißt es im Betroffenenladen. Torka befürchtet, dass viele "erst kommen und sich aufregen, wenn die Bahn fährt".

Tobias Arbinger

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