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Vernachlässigte Kinder: Keine Entschuldigung mehr fürs Wegsehen

Das Netzwerk Kinderschutz hat Berlin für die Nöte der Jüngsten sensibilisiert, fürs Wegsehen gibt es keine Entschuldigung mehr. Doch trotz Finanznot muss es dichter werden, denn die Fallzahlen sind zu hoch.

Von Sandra Dassler

Immer wenn Gina Graichen mal wieder vor einem vernachlässigten, misshandelten oder gar getöteten Kind steht, schwört sie sich, zwei Sätze nie zu denken: „Man kann es nicht verhindern" und „Das hätte gar nicht passieren dürfen, weil wir alles Menschenmögliche tun“. Gina Graichen ist seit fast drei Jahrzehnten die Leiterin des Kommissariats zur Aufklärung von Delikten an Schutzbefohlenen beim Landeskriminalamt, und sie hat in dieser Zeit Hunderte von Kindern gesehen, die ohne Hilfe zugrunde gegangen wären oder zugrunde gingen. „Aber man kann es verhindern und muss sich deshalb immer wieder fragen, ob wir wirklich alles Menschenmögliche tun“, sagt sie. Und ist froh, dass sich die Berliner Abgeordneten am gestrigen Donnerstag wieder einmal mit dem Netzwerk Kinderschutz beschäftigen wollten.

Die Große Anfrage dazu war von der Linksfraktion gestellt worden. „Wir haben das Netzwerk in der damaligen Regierung mit auf den Weg gebracht“, sagt deren Sprecherin für Jugend und Familie, Katrin Möller, „ebenso das Berliner Kinderschutzgesetz im Jahr 2009. Wir fühlen uns verantwortlich – gerade weil Personalabbau das Netzwerk gefährdet.“

So wisse man genau, welche personellen, finanziellen und organisatorischen Ressourcen für ein Gesundheitsamt eines Bezirkes notwendig seien, um die Aufgaben zu erfüllen, sagt Möller. Die tatsächliche Ausstattung reiche aber oft nicht einmal für die so genannten Erstbesuche aus, die jede Familie nach der Geburt ihres ersten Kindes von den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten erhalten soll.

Vom Senat wird oft darauf verwiesen, dass die Verteilung der Gelder Sache der Bezirke ist. „Damit schieben die den Schwarzen Peter weiter“, heißt es in den Jugendämtern. Ob dann beim Kinderschutz gekürzt werde, hänge oft von der Stärke der jeweiligen Stadträte ab. In manchen Bezirken sei Kinderschutz vom Personalabbau ausgenommen, aber durch den Einstellungsstopp reiche es trotzdem nicht, um alle Aufgaben zu erfüllen.

Dabei ist die Zahl der vernachlässigten und misshandelten Kinder in Berlin nach wie vor exorbitant hoch. 2011 registrierte die Polizei 599 Vernachlässigungen und 371 Misshandlungen. 2012 dürften es nicht viel weniger gewesen sein, und zu Beginn dieses Jahres ließen bereits mehrere Meldungen von in Wohnungen aufgefundenen Kindern ohne Essen, Betten oder Strom aufhorchen.

Sowohl die Kollegen vom Kinderschutzkommissariat als auch die Jugendämter sagen, dass die Anzahl der Fälle seit Einrichtung des Netzwerks Kinderschutz im Jahr 2006 zunächst extrem anstieg und sich nun auf hohem Level stabilisiert hat. „Der Anstieg ist natürlich darauf zurückzuführen, dass eine Sensibilisierung erreicht wurde“, sagt Gina Graichen. „Alle, die es immer wussten oder ahnten – Lehrer, Erzieher, Ärzte, Nachbarn –, aber wegsahen und erst redeten, wenn die Polizei sie fragte, können sich nicht mehr damit entschuldigen, dass ihnen Ansprechpartner fehlen. Es gibt die Kinderschutzhotline, die Hotline der Polizei, und alle beteiligten Behörden sind gut vernetzt.“

Damit dieses Netz noch enger wird, will Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) unter anderem die „Aufsuchende Elternhilfe“ mit Schwerpunkt auf die Begleitung werdender Mütter bereits in der Schwangerschaft weiter ausbauen. Außerdem kündigt sie an, dass mit Bundesmitteln finanzierte so genannte Familienhebammen demnächst in jedem Bezirk zum Einsatz kommen und weitere Familienzentren finanziert werden.

Bereits voriges Jahr habe man auch die Hotline Kinderschutz (Telefon: 61 00 66) erweitert, sagt die Senatorin. Seit Herbst gibt es ein Beratungsangebot auch in den Sprachen Türkisch und Arabisch. Russisch soll in diesem Jahr hinzukommen.

Gina Graichen, die froh ist, dass sich die Berliner Polizei immer noch als einzige in Deutschland eine Spezialdienststelle für den Kinderschutz leistet, kann das nur begrüßen. „Im vergangenen Jahr hatten wir wieder drei Kinder, die von ihren Eltern zu Tode misshandelt wurden“, sagt sie: „Und jeden einzelnen Fall hätte man verhindern können.“

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