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Berlin: Veronika Etzold-Schulz (Geb. 1949)

Als sie wieder auftaucht, fragt man sich, ob das dieselbe ist

Wenn der Leierkastenmann im Hof des Münchner Mehrfamilienhauses seine Weisen dreht, klingt das wie die Melodie zu einer schönen Kindheit. Da sind die Nachbarskinder, mit denen es sich gut spielen lässt, und da ist der Vater, der manchmal mit ihnen eine Bergwanderung unternimmt. Dann trägt er ein Tuch auf dem Kopf, das an allen vier Enden zusammengeknotet ist. Oben angekommen trinkt der Architekt sein Gipfel-Bier, lobt fachmännisch die bayerische Landschaft und freut sich am Zusammensein mit seinen Kindern.

Dirigentin dieser Kindheit aber ist die Mutter, und der schwebt ein Leben als Künstlerin vor. Wer sich ausdrücken will, braucht Raum. Wer heranwachsen will, auch. Sie behandelt ihre vier Kinder wie eine von fremder Hand abgestellte Last. Still und ängstlich ist Vroni, die Zweitgeborene. Bloß nicht aufbegehren; dass sie überhaupt existiert, scheint Frechheit genug.

Als die ältere Schwester in ein Internat geschickt wird, sagt Vroni, dass sie auch dorthin möchte. Damit meint sie, dass sie ihre Schwester vermisst, doch die Mutter nimmt sie nur zu gern beim Wort. Dass es Vroni nicht gefällt bei den Nonnen interessiert nicht, sie muss bleiben, auch als die Schwester wieder abgeht. Freude bereitet ihr allein der Chor.

Das Mädchen mit dem zierlichen Körper und dem blond gerahmten, feinen Gesicht singt die Soloparts, als wäre sie nicht im strengen Nachkriegdeutschland geboren, sondern irgendwo, wo der Soul zu Hause ist. Singend darf sie leuchten, singend darf sie, die Stille, ihrer tiefen und warmen Stimme Gehör verschaffen.

Ihre Hilflosigkeit, ihr Frieren wandelt sie in ein umso wärmeres Verständnis für Bedürftige. Im dritten Jahr ihrer Erzieherinnenausbildung geht sie an der Seite ihres ersten festen Freundes nach Berlin.

Aus Vroni wird Veronika. Ein Foto zeigt sie am WG-Tisch, das Haar in der Mitte gescheitelt, der Blick gesenkt. Neben ihr ein selbstgewiss dreinschauender Mann, Vollbart, lässig zurückgelehnt.

Veronika, inzwischen Sozialpädagogin, arbeitet jetzt in der Neuköllner Säuglingsfürsorge. Auch wenn sie mitgeht in die Kneipen, lila Latzhosen trägt und Frauengruppen besucht – die wilden Partys, die rebellischen Reden überlässt sie den anderen.

Sie geht jeden Morgen schwimmen, nimmt ihre Arbeit sehr ernst. Wo sie einmal Spuren von Vernachlässigung entdeckt hat, ist bei ihr kein Vertrauen mehr zu erwirtschaften; Veronikas Sorge für die Kleinsten ist unverhandelbar.

Als sie selbst Mutter wird, merkt sie bald, dass sie die Tochter zu oft zurückstellen muss für ihre Arbeit mit den fremden Kindern. Sie beschließt, eine Pause zu machen.

In dieser Zeit stirbt unter der Obhut ihrer Vertreterin eines der ihr anvertrauten Babys. Zudem gipfelt das seelische Leid ihres jüngeren Bruders in einer unheilbaren Krankheit, er kommt in ein Heim. Zwei Schützlinge, verloren. Die Trauer weckt alte Erinnerungen, die Vergangenheit lebt auf, wirft ihre Schatten über die Gegenwart. Veronika kämpft. Sie macht Therapien, besucht eine Malschule, singt im Chor. Die Erinnerungen an die Bergwanderungen mit dem Vater werden zum Bild für Hoffnung: Irgendwann ist jedes Tal durchwandert.

Als sie wieder auftaucht, fragen sich alte Bekannte, ob das dieselbe ist, die damals mit ihnen so still am WG-Tisch saß. Dieses Talent, Leute und Dialekte nachzuahmen, dieses deftige Bayrisch wenn sie sich ärgert, ganze Runden kann sie damit unterhalten.

Es ist Veronika, die keine Angst mehr hat. Die roten Lippenstift trägt, die sich nicht scheut, über ihre Gefühle und ihre Geschichte zu reden. Sie macht einen neuen Berufseinstieg als Betreuerin von Straßenkindern und schwierigen Jugendlichen. So zart und stilvoll ihre Erscheinung, so fest ihr Auftreten. Veronika vertreibt Kerle, die ein geistig zurückgebliebenes Mädchen sexuell ausbeuten, mahnt die Kassierer zur Geduld, wenn ebendieses Mädchen sich an der Supermarktkasse wieder und wieder verzählt. Den Schwerverbrecher besucht sie selbst dann noch im Knast, als ihre Stunden mit ihm längst nicht mehr bezahlt werden. Sein Entschluss, dem Gefangenenchor beizutreten, ist ihr Lohn genug.

Nie übersieht sie die Blumen, die die Kollegin in den Raum stellt, nie die Kaffeetasse, die ihr jemand an den Tisch bringt. Nichts ist selbstverständlich, und erst recht nichts Liebes, sie weiß das. Es kommt das Jahr, in dem ihr Bruder unter trostlosen Umständen stirbt. Im selben Jahr erhält Veronika eine Krebs-Diagnose. Sie arbeitet weiter. Besucht Ausstellungen. Fährt mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter nach Paris. Sie singt.

Veronika hört nicht auf zu hoffen, auf noch mehr Leben. Sie möchte mit ihrer Tochter die Diplomarbeit feiern, möchte sich eine rote Tasche kaufen, möchte Großmutter werden. Doch sie muss Abschied nehmen.

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