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Neukölln

© Kai-Uwe Heinrich

Verschuldung: Jeder vierte Neuköllner lebt auf Kredit

Zu hohe Handykosten, unbezahlbare Raten fürs Eigenheim: In Neukölln ist ein Viertel der 300.000 Einwohner überschuldet. Bald könnte die Mehrheit zahlungsunfähig sein.

Wer arm ist, muss warten, in der Schlange. 50 Meter ist sie lang und reicht von der Richardstraße bis in den Durchgang zum zweiten Hinterhof, bis zur Tür mit dem Schild „Neue Armut“. Jeden Donnerstag stehen sie hier im Norden Neuköllns, zwei U-Bahn-Stationen vom Hermannplatz weg. Die ersten kommen schon vor acht und schweigen sich an. Einer trägt bunte Fallschirmseide. Ein anderer einen dunklen Zweireiher. Eine junge Frau hat einen Kinderwagen mitgebracht. Der Mann vor ihr könnte ihr Großvater sein. Die Menschen in der Schlange kennen sich nicht, aber sie haben ein gemeinsames Problem: Schulden. So hohe Schulden, dass sie sie aus eigener Kraft nicht abbauen können.

Deswegen stehen die Leute in Neukölln Schlange. Der Arbeitskreis Neue Armut ist eine Fachberatungsstelle für Schuldner- und Insolvenzberatung. Donnerstags ist Sprechstunde.

15,3 Prozent aller Berliner sind überschuldet, das bedeutet Platz zwei im Schuldenranking der Großstädte hinter Duisburg (16,8 Prozent). Betrachtet man Neukölln als eigene Stadt, ist sie ganz klar die Nummer eins. 21,43 Prozent der 300 000 Neuköllner haben ein ernsthaftes Geldproblem. Im Kiez um die Hermannstraße und Emser Straße liegt die Quote bei 38,1 Prozent. Von Überschuldung spricht man, wenn der Schuldner in absehbarer Zeit nicht in der Lage ist, seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.

Um Punkt neun Uhr öffnet sich im Durchgang zum zweiten Hinterhof die Tür. Eine Frau mit osteuropäischem Akzent verteilt Pappmarken mit Wartenummern. Es kann schon mal zwei Stunden dauern, bis einer der zehn Berater Zeit hat.

Oben im ersten Stock hat Sven Gärtner sein Büro. Die Wände sind frisch gestrichen, die Dielen abgezogen und lackiert. Es ist nicht alles schlecht in Neuköllns Hinterhöfen. Sven Gärtner ist ein Mann mit breitem Kreuz und einem gewaltigen Schnauzbart, der seinen melancholischen Blick verstärkt. Er redet nicht mehr als nötig und hört umso aufmerksamer zu. Sven Gärtner wirkt wie jemand, dem man seine Sorgen gern anvertraut. Seit 1985 berät er Neuköllner Schuldner. Angefangen hat er in einem Kohlenkeller in der Hobrechtstraße. Arm war Neukölln damals auch schon, „aber es gab noch Arbeit“, sagt Gärtner. Armut und Arbeitslosigkeit sei kein Neuköllner Problem, sondern eines der ganzen Stadt, ein postindustrielles Problem. „In Neukölln sieht man es nur deswegen so deutlich, weil das hier mal so etwas wie eine verlängerte Werkbank war.“ Vor der Wende, als Neukölln neben Spandau der wichtigste Industriestandort West-Berlins war.

Die meisten Betriebe sind Mitte der 90er Jahre pleitegegangen. Berlin versucht, sich neu zu erfinden als Dienstleistungsstandort, aber in Neukölln ist diese Entwicklung noch nicht angekommen. Den Verlust an Kaufkraft spürt man an jeder Straßenecke. Ganz deutlich sieht man es in der Karl-Marx-Straße, früher mal eine Einkaufsstraße mit Niveau. Sven Gärtner erzählt von den vielen Schuhgeschäften, von Koffer-Panning und Musik-Bading. Alle weg, weil es jedes Jahr weniger zahlungskräftige Kunden gab. Nun machen hier sogar die Billigläden dicht.

Im Flur der Schuldnerberatungsstelle in der Richardstraße hängt ein Plakat: „Verführt + verkauft = verschuldet.“ Der Weg in die Schuldenfalle ist kurz. Hier eine Bestellung im Internet, da ein Handyvertrag oder ein Kleinkredit, um die laufenden Ausgaben zu decken. Irgendwann übersteigen die monatlichen Zahlungsverpflichtungen das Einkommen.

Das Wartezimmer ist nach zwei Minuten überfüllt. Zeit für eine Zigarette auf dem Hof. Eine Frau, Mitte vierzig, kämpft mit wattierter Jacke gegen die Kälte. Vor ein paar Jahren hat sie ihren Job als Sekretärin verloren und danach versucht, sich als Ich-AG selbstständig zu machen. „Schreibbüro, zu Hause am PC, aber da kriegst du keine Aufträge, greifen alles die großen Läden ab.“ Der Überblick über Schulden und Gläubiger ist ihr verloren gegangen, das Vertrauen ins Jobcenter auch. „Die werfen dir nur Knüppel zwischen die Beine.“

Wer in die Richardstraße kommt, hat den schwersten Schritt hinter sich. Er hat sich eingestanden, dass er ein Problem hat, und die Scham überwunden, anderen davon zu erzählen. Das braucht Zeit. Sven Gärtner erzählt von Menschen, die mit Plastiktüten voller ungeöffneter Rechnungen und Mahnbescheide vor ihm stehen. „Viele kommen erst, wenn es gar nicht mehr anders geht.“ Wenn die Herren vom Inkassobüro ihren Besuch ankündigen, wenn der Gerichtsvollzieher ein paarmal da war. Wenn der Geldautomat die EC-Karte nicht mehr herausrückt. Oder nachdem sie einem falschen Berater aufgesessen sind. „In Neukölln gibt es mindestens drei kriminelle Büros, die eine Pseudoberatung anbieten und den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen“, sagt Sven Gärtner. „Die verlangen bis zu 600 Euro.“ Bei der Beratungsstelle Neue Armut übernimmt das Bezirksamt die Kosten.

In 50 Prozent aller Fälle ist Überschuldung eine Folge von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Ehescheidung. Aber man soll bloß nicht glauben, es handele sich allein um ein Problem der Unterschicht, sagt Gärtner. Er könnte Mannschaftswagen füllen mit Polizisten, die sich finanziell übernommen haben. Andere Klienten sieht er beim Essen in der Rathauskantine. Alles Beamte. Viele der einst Bessersituierten haben sich schon vor der Wende mit Immobilienkäufen in den südlichen Stadtteilen Britz, Buckow und Rudow übernommen. Da war dieses Ehepaar, er Beamter, sie hat auch gut verdient. Anfang der 80er Jahre hatten sie für eine halbe Million Mark ein Haus im bürgerlichen Britz gekauft. Nach der Wende fiel die Berlin-Zulage weg, die Frau verlor ihren Job. Irgendwann kamen sie mit den Raten nicht mehr hinterher und saßen vor Gärtners Schreibtisch. Das Haus musste weg, es wurde viel geweint im Büro an der Richardstraße.

Oft stottern Schuldner über Jahre zehn, zwanzig Euro im Monat ab. In Gärtners Büro erfahren sie, dass sich am Schuldenstand nichts geändert hat, dass sie nicht mal die Zinslast getilgt haben, weil ihr ganzes Geld für Bearbeitungsgebühren und Säumniszuschläge draufgegangen ist. Andere hangeln sich von einem Kleinkredit zum nächsten und merken nicht, dass sich ihre zunächst überschaubare Schuldensumme vervielfacht hat.

Wenn sich die Berater an der Richardstraße über ihre Klienten unterhalten, bemerken sie, dass sich manche Familie schon in der dritten Generation überschuldet. Immer öfter machen Kinder die Fehler ihrer Eltern nach. Kaufen die Waschmaschine auch dann auf Raten, wenn die Kasse leer ist. Bessern das Arbeitslosengeld mit einem Kleinkredit auf, von dem sie nicht wissen, wie sie ihn zurückzahlen sollen. „Die Kinder übernehmen die Strukturen, die ihnen vorgelebt werden“, sagt Gärtner. „Ohne vernünftige Prävention kommen wir aus diesem Kreislauf nicht heraus. Wir müssen in die Schulen rein.“ Aber das müsse man den Lehrern erst mal klarmachen. Schuldnerberatung nach Stundenplan – pah!

Für die Aufklärung der nächsten Generation ist Friederike Flacke zuständig. Von ihrer Erscheinung her ist sie das Gegenstück zum kräftigen, traurigen Sven Gärtner. Eine kleine, zierliche Person, sie lacht viel und gerne, es ist ein herzliches Lachen. Jede Woche zieht sie durch die Neuköllner Schulen und klärt auf. Um die tausend Schüler haben ihr vergangenes Jahr zugehört. Schon die Zwölfjährigen in den sechsten Klassen kennen über ihre Eltern die einschlägigen Begriffe: Schufa, Dispokredit, Mietrückstände, Stromschulden. Die Älteren in den neunten oder zehnten Klassen haben schon eigene Erfahrungen gemacht. Mit Handyverträgen, Internetbestellungen. „Ein Handy haben die heute ja alle“, sagt Friederike Flacke – und dass zu ihrer Schulzeit noch keiner eines hatte. Friederike Flacke ist 28 Jahre alt.

Wenn sie vor den Schülern steht, will sie als Erstes wissen: „Wer bezahlt euch das denn?“ Fast immer sind es die Eltern, die wenigsten Schüler haben eine Vorstellung davon, wie viel sie vertelefonieren. „Wie soll sich da so etwas wie ein Kostenbewusstsein entwickeln?“ Ein Mädchen hat von einer Freundin erzählt, die drei Handyverträge gleichzeitig abgeschlossen hatte und mit den Zahlungen nicht mehr hinterherkam. Eine andere kennt jemanden, der im Gefängnis sitzt, weil er zu oft beim Schwarzfahren in der U-Bahn erwischt wurde. Die Eltern hatten ihm kein Fahrgeld gegeben.

Gärtners Prognose für die Zukunft fällt schlecht aus. „Wenn wir nicht gegensteuern, wird die Schuldnerquote in den nächsten Jahren auf über 60 Prozent steigen. Dann haben wir hier richtige Slums.“ Er würde den Verantwortlichen im Senat gerne mal sagen, dass das Herumdoktern an Symptomen nichts bringe. Dass es Blödsinn sei, beim Quartiersmanagement Minikieze zu definieren und schon an der nächsten Straßenecke die Förderung einzustellen. „Ganz Nordneukölln müsste vom Quartiersmanagement finanziert werden, vom Hermannplatz bis zum Teltowkanal.“ Ein positives Zeichen sei immerhin, dass die Schuldnerberatungen zu den wenigen Einrichtungen gehörten, denen Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) ein bisschen mehr Geld bewilligte, als die Landesregierung vor ein paar Wochen über Nachbesserungen im Haushalt beriet.

Es sind die kleinen Erfolge, die den Leuten an der Richardstraße Hoffnung machen für die Zukunft. Sven Gärtner spricht von Klienten, die ihre Insolvenz hinter sich gebracht haben und heute noch in der Sprechstunde vorbeischauen, um zu fragen, ob sie diesen Vertrag unterzeichnen sollten oder jenen Kredit aufnehmen dürften. Seine Kollegin Friederike Flacke erinnert sich an eine junge Frau mit Kind, die mit 10 000 Euro Schulden und um die zehn Gläubigern klarkommen musste. Handy, Versandhaus, Stromrechnung: die Klassiker. „Aber die Frau hatte Biss. Die hat alle Friseurgeschäfte abgeklappert, irgendwann hat sie dann eine Lehrstelle gefunden. Ihre Oma hat einen Teil der Schulden übernommen.“ Frau Flacke strahlt. „Der Vergleich mit den Gläubigern läuft, die Frau wird bald schuldenfrei sein.“ Eine weniger, die sich donnerstags um neun in die lange Schlange an der Richardstraße einreiht.

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