zum Hauptinhalt
Immer wieder muss die Polizei völlig vernachlässigte Kinder aus verdreckten Wohnungen retten. Doch in wie vielen Fällen der Staat die Verantwortung für die Kinder übernimmt, weiß keiner.

© dpa

Verwahrloste Kleinkinder: Zahlenspiele beim Kinderschutz

Gerade mussten Polizei und Behörden in Neukölln vernachlässigte Söhne in Obhut geben. Doch wie oft Eltern wirklich ihr Nachwuchs weggenommen wird, weiß keiner. Jeder Bezirk rechnet anders.

Von

Die Mutter meldete sich erst über eine Stunde später. Da hatte eine Passantin die zwei Kleinkinder bereits der Polizei übergeben. Um acht Uhr morgens waren die zwei und vier Jahre alten Jungen am Donnerstag alleine im Gleisbett der Tram in Köpenick unterwegs gewesen, sie hatten blaue Flecken, volle Windeln und leere Schnapsflaschen als Spielzeug bei sich – ein Fall fürs Jugendamt. Der Kindernotdienst nahm sich der Kinder an, die Polizei ermittelt gegen die Mutter aus Neukölln. Doch wie es weitergeht, konnte am Sonnabend niemand sagen. Weder das Jugendamt noch der zuständige Stadtrat waren erreichbar.

Bei „Gefahr für das Wohl des Kindes“ kann und muss der Staat Kinder in Obhut nehmen. Wie viele das aber jedes Jahr sind, ist völlig unklar – obwohl der Senat in einem Rundschreiben an die Bezirke zu Jahresbeginn versucht hat, Einheitlichkeit bei Erfassung der Statistik herzustellen. Das hat bisher nicht geklappt.

Als der FDP-Abgeordnete Sebastian Czaja kürzlich von der Jugendverwaltung wissen wollte, in welchen Bezirken die meisten Kinder aus ihren Familien genommen werden müssen, kam als überraschender Spitzenreiter Treptow-Köpenick heraus, der Bezirk, in dem sich auch der aktuelle Fall abspielt. Mit 240 Kriseninterventionen lag der grüne Bezirk im Südosten nicht nur um 50 Prozent über den Neuköllner Zahlen, sondern sogar um das 25fache über Spandau, das nur neun Fälle gemeldet hatte.

Dass da etwas nicht stimmen konnte, fiel niemandem auf. Weder der Abteilung, die die Zahlen geliefert hatte, noch der zuständigen Jugend-Staatssekretärin Claudia Zinke (SPD), die die parlamentarische Anfrage Czajas am 4. August unterzeichnet hatte. Selbst der Abgeordnete schöpfte keinen Verdacht. Und selbst wenn, hätte ihm das wenig gebracht, denn niemand hätte ihm verlässliche Zahlen liefern können: Es gibt sie nicht. Jeder Bezirk hat eine andere Methode, über seine Inobhutnahmen Buch zu führen.

Mit welchen Kniffen die Bezirke bei den Zahlen tricksen, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Während das eine Jugendamt schon eine kurzzeitige Herausnahme von Kindern aus ihren Familien als Inobhutnahme vermerkt und auch als solche an das Statistische Bundesamt meldet, versucht das andere Jugendamt, den entsprechenden Gesetzesparagrafen möglichst selten anzuwenden. „Wir vermeiden das, indem wir die Zustimmung der Eltern erwirken“, erläutert Lichtenbergs Jugendamtsleiter Rainer Zeddies. Denn wenn Eltern ihr Einverständnis geben, gilt das nach Paragraf 42 des Sozialgesetzbuches VIII nicht als Inobhutnahme. Die Folge: Lichtenberg meldet für das Jahr 2009 nur 24 Fälle.

Ganz anders Treptow-Köpenick, dessen Jugendamt die zehnfache Zahl nennt. Hier zählt man schon eine nur kurzzeitige Herausnahme der Kinder als Inobhutnahme. Dieser zeitliche Aspekt werde von den Jugendämtern sehr unterschiedlich gewichtet, erläutert die Reinickendorfer Jugendamtsleiterin Marianne Desens. „Manche Inobhutnahmen sind schnell erledigt und werden nicht zum Fall“, beschreibt die Pankower Jugendstadträtin Christine Keil (Linke) das Meldeverhalten in ihrem Amt.

Das ist aber nicht der einzige Grund für die unterschiedlichen Zahlen. Die Sozialarbeiter wirken auch unterschiedlich intensiv daran mit, ihre Fälle an das Statistische Bundesamt zu melden. „Weil sie ihre Zeit lieber mit den bedürftigen Menschen als mit der Bürokratie verbringen“, wirbt ein Jugendstadtrat um Verständnis. So kommt es, dass Pankow auf Anfrage von 75 Inobhutnahmen im Jahr 2009 spricht, dem Statistischen Bundesamt aber nur 20 Fälle aus Pankow bekannt sind. Ähnliche Differenzen gibt es beispielsweise in Lichtenberg und Friedrichshain-Kreuzberg. Die Verwirrung ist komplett, wenn man die Zahlen hinzunimmt, die der Berliner Notdienst Kinderschutz notiert hat. Er ist zuständig, wenn die Jugendämter geschlossen sind. Für das Jahr 2009 vermeldet er 2735 Inobhutnahmen in ganz Berlin, während das Statistische Bundesamt nur insgesamt 793 nennt.

Wer an dem Desaster Schuld sein soll, lesen Sie auf der letzten Seite.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich viele Fälle über Nacht oder am Wochenende klären, bleibt eine große Diskrepanz: Der Notdienst listet auch Fälle auf, die in der Auslegung der meisten Bezirke gar nicht als Inobhutnahmen gelten würden.

Neuköllns Jugendstadträtin Gabriele Vonnekold (Grüne) gibt „Siemens und Jugendsenator Zöllner“ eine Mitschuld daran, dass es noch immer keine einheitliche Erfassung der Fallzahlen gibt. Siemens sei beauftragt gewesen, eine geeignete Software zu entwickeln, was nicht gelungen sei. Dann hätten einzelne Bezirke selbst nach technischen Möglichkeiten gesucht, die Fakten jenseits von Strichlisten zu erfassen, woraufhin einige Personalräte datenschutzrechtliche Bedenken angemeldet hätten, berichtet Stadträtin Keil aus Pankow.

Angesichts dieses Durcheinanders steht für den Abgeordneten Czaja zumindest fest: „Es gibt einen erheblichen Klärungsbedarf“. Er fragt sich, warum sich Bezirke und Jugendverwaltung nicht viel früher bemüht haben, die Öffentlichkeit mit verlässlichen Zahlen zu versorgen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false