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Das verzauberte Mädchen Dott zieht mit einem Reiher und einer Krähe z durchs Land und lernt viele Sagenwesen kennen.

© Illustration: Alfred Seidel

Unsichtbar mit Zauberkräften: „Die Abenteuer der kleinen Dott“ – Remake einer Kindergeschichte

Ein Berliner Verlag hat „Die Abenteuer der kleinen Dott“ neu aufgelegt. Vorbild der Erzählung ist die Geschichte von Nils Holgersson.

Es ist bekannt, dass man Wichtelmännchen nie böse Streiche spielen und schon gar nicht versuchen sollte, sie in einem Fliegennetz einzufangen. Wie schnell hat man sich eine schallende Backpfeife eingefangen und ist prompt selbst auf Wichtelgröße geschrumpft – der kleine Nils Holgersson kann ein Lied davon singen.

Die Welt, in Schweden und selbst in der Prignitz, steckt eben voller Magie, ja selbst ein dort heimisches Gewächs wie der Rainfarn vermag zauberhafte Kräfte zu entwickeln. Rainfarn? Diese langstielige Feld- und Wiesenpflanze mit der schirmartigen Rispe aus gelben knopfartigen Blüten. Ziemlich harmlos, nur nicht in der Johannisnacht, das ist die auf den 24. Juni. Wer da unbedacht durch die freie Natur läuft und plötzlich eine Blüte des Rainfarns im Schuh stecken hat, wird unsichtbar. So steht es geschrieben.

In der Prignitz wird er Rennefarre genannt, was seine Wirkung nicht schmälert, wie die zwölfjährige Dorothea, genannt die kleine Dott, erfahren muss. Die hat zwar keinen Wichtelmann geärgert, aber nicht auf ihren kleinen kranken Bruder aufgepasst, ist lieber über die moorige Wiese am Rambower See zum Johannisfeuer geschlichen, ohne darauf zu achten, wo sie hintritt. Die kleine Dott ist gewissermaßen das Brandenburger Pendant zum schwedischen Nils.

Ihre Erfinderin Tamara Ramsay hat erst gar nicht zu leugnen versucht, dass sie zu ihrer dreibändigen Kinderbuchreihe über die „Wunderbaren Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott“ von Selma Lagerlöfs „Wunderbarer Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ inspiriert wurde.

Generationen von jungen Lesern haben die drei Bände verschlungen, die zuletzt nur noch antiquarisch erhältlich waren. Nun aber wurden sie von Eva C. Schweitzer, Verlegerin des Verlags Berlinica Publishing, die Dotts Abenteuer schon als Kind liebte, in einer bibliophilen Ausgabe neu herausgegeben (Tamara Ramsay: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Band I - III. Neu aufgelegt mit Bildern von Alfred Seidel. Berlinica Publishing. Jeweils 264 Seiten, 16 Euro).

Begegnung in Sanssouci

Dotts Verzauberung durch den vermaledeiten Rennefarre hat nicht nur ihre Unsichtbarkeit zur Folge, sie beherrscht nun auch, ähnlich wie Nils, die Sprache der Tiere, kann sogar in der Zeit zurückreisen. In Sanssouci den Alten Fritz treffen? Kein Problem. Und wie Selma Lagerlöf die Flugreise des kleinen Nils als Porträt ihrer Heimat samt seiner Mythen und Legenden anlegt, so geraten auch Tamara Ramsay die drei Bände zu einem abenteuerlichem Schnellkurs zur Geschichte und Sagenwelt Brandenburgs und Berlins.

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Noch nie von Frau Harke gehört, der mächtigen „Herrin der Winde und Wolken“, der großen „Frau der Moore und Flüsse“, der „Beschützerin des Wildes und der zahmen Tiere“? Dann wird es aber Zeit. Die große Stadt an der Spree besucht Dott im zweiten Band und erblickt sie zuerst aus der Vogelperspektive: „Wie Brunnenschächte waren die Höfe und die Straßen wie tiefe wasserlose Kanäle, in denen zweistöckige gelbe Omnibusse fuhren und lange, klingelnde Straßenbahnzüge und Kraftwagen und Fahrräder, und alles wimmelte und lärmte durcheinander, und es dröhnte wie in einem vollbesetzten Bienenkorb.“

Dott trifft auch auf König Friedrich II.
Dott trifft auch auf König Friedrich II.

© Illustration: Alfred Seidel

Tamara Ramsay hat selbst eine ganze Weile dort gelebt, aber man kann sie nicht eigentlich Berlinerin nennen. Europäerin trifft eher zu, das fängt beim Nachnamen an. Ramsay heißt ein schottischer Clan mit Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert, es dürfte der sein, dem ihr Vater Karl Johann Ramsay, Verwaltungsdirektor der Kiewer Walzwerke, entstammte.

In Kiew wurde die kleine Tamara am 15. September 1895 auch geboren. Die Vorfahren ihrer Mutter Elisabeth kamen aus Schleswig-Holstein, Dänemark und Russland, ihr Großvater etwa war Brückenbauer in St. Petersburg. Dorthin zog die früh verwitwete Mutter 1901 mit den drei Kindern, vier Jahre später ging es nach Hamburg: Das Haus des Großvaters war den revolutionären Wirren von 1905 zum Opfer gefallen.

Von großbürgerlicher Herkunft, musste die Mutter ihre Familie nun mit Sprach- und Klavierunterricht, auch als Dolmetscherin für den Hamburger Senat, über Wasser halten, ermöglichte ihren Kindern dennoch eine gute Ausbildung. Mitte der zwanziger Jahre zogen Mutter und Tochter nach Berlin, vielleicht auch die Geschwister, worauf der Eintrag des als Elektrotechniker ausgewiesenen Bruders Waldemar in den Berliner Adressbüchern von 1938 und 1943 hindeutet. Gut möglich, dass auch Tamara und die Mutter in der Frankenstraße 1 in Schöneberg gewohnt haben.

Tamara Ramsay erfand die Geschichten um die kleine Dott.
Tamara Ramsay erfand die Geschichten um die kleine Dott.

© Promo

Die beiden genannten Jahre waren Wendepunkte im Leben der jungen Autorin. 1938 (nach anderen Angaben erst 1941) kam der erste „Dott“-Band heraus, der Beginn der Reise des unsichtbaren Mädchens, das nicht wie Nils einen Gänserich nutzt, sondern Reiher und Krähe. Der Band spielt in der Prignitz, eine fantastische Reise durch deren oft unfriedliche Vergangenheit und Gegenwart, durch die reale wie die märchenhafte Welt, mit ebenso unterhaltendem wie lehrhaftem, ja mahnendem Impetus: „Ich habe dieses Buch geschrieben, um Rassenwahn und Völkerhass entgegen zu wirken“, sagte Tamara Ramsay nach dem Krieg.

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Der hatte sie und ihre Mutter aus Berlin vertrieben. 1943 waren sie ausgebombt worden, flohen ins österreichische Vorarlberg, wo die Mutter zwei Jahre später starb. Ihre Tochter zog nach Stuttgart weiter, dem Sitz des Union-Verlages, bei dem schon der erste „Dott“-Band erschienen war, wurde dort Lektorin und schrieb an den Abenteuern weiter. 1951 wurde der erste Band erneut aufgelegt, illustriert mit den Zeichnungen des Theatermalers und Illustrators Alfred Seidel, mit dem die Autorin eng zusammenarbeitete und dessen Arbeiten nun auch die Neuauflage der drei Bände schmücken.

Wie die kleine Dott einen Reiher rettete

Der zweite erschien 1953, von der Prignitz aus reist die junge Heldin darin weiter nach Potsdam und Berlin, Leipzig und Dresden, in den Spreewald und ins Erzgebirge. Im dritten, 1954 veröffentlicht, geht es in großem Bogen über die Lausitz, Rübezahls Schneekoppe, Breslau und Oberschlesien, zurück in die Prignitz auf den elterlichen Hof, und wie der kleine Nils wird auch Dott zuletzt glücklich erlöst.

Die für die aktuelle Neuausgabe leicht gestrafften und sprachlich behutsam modernisierten Abenteuer blieben die bekanntesten Werke der Autorin, die am 7. März 1985 in Mühlacker bei Stuttgart starb. Hinterlassen hatte sie ein spannendes, gelegentlich etwas lehrhaft geratenes Werk, das ohne nationalistische Zwischentöne für die Liebe zur Heimat warb und sich nebenbei für den Naturschutz einsetzte – gerade das zentrale Abenteuer in Berlin ist hier beispielhaft: Einen jungen Reiher hat es in den Zoologischen Garten verschlagen, für ihn die Hölle auf Erden – bis die unsichtbare kleine Dott ihn befreit.

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