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Berlin: Victoriastadt: Vom Zille-Kiez zum Sanierungsgebiet

Umgeben von Eisenbahnviadukten wirkt die Victoriastadt am südwestlichen Zipfel des Bezirks fast wie eine Festung. Die abgeschlossenen Lage verlieh ihr einst eine besondere Atmosphäre.

Umgeben von Eisenbahnviadukten wirkt die Victoriastadt am südwestlichen Zipfel des Bezirks fast wie eine Festung. Die abgeschlossenen Lage verlieh ihr einst eine besondere Atmosphäre. Doch vom "Zille-Milljöh" - der Maler lebte seit 1887 hier - sind einzig die zahlreichen Gründerzeitbauten übrig geblieben. Wie leergefegt sind die einst belebten Straßen, nur hie und da ist eine Kneipe zu finden. Vorbei sind auch die Zeiten der Hausbesetzer, die nach der Wende in den Kiez kamen. 1998 wurde das letzte Haus an der Pfarrstraße geräumt. Auch die Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Jugendlichen Mitte der 90er Jahre gehören inzwischen der Vergangenheit an.

1994 vom Senat zum Sanierungsgebiet erklärt, will es mit dem Kiez jedoch nicht so recht aufwärts gehen, auch wenn der Tuchollaplatz derzeit nach alten Plänen rekonstruiert wird, eine Grünanlage an der Türrschmidtstraße im vergangenen Spätsommer fertig wurde. Um die rund 3500 Bewohner zum Bleiben zu bewegen und Zuzügler anzuwerben, gelten für die Wohnungen in den größtenteils sanierten Häusern seit 1996 Mietobergrenzen. Doch: "Nach der Wende machten die meisten Geschäfte dicht", bedauert Dagmar Müller, Sprecherin der Betroffenenvertretung. "Die Händler haben sich der veränderten Nachfrage der Kunden nicht oder nur langsam angepasst, so dass die Kunden ausblieben." Erschwerend wirkten sich die gestiegenen Gewerbemieten aus. Auch die Bibliothek wurde trotz Anwohnerprotestes Ende 1999 geschlossen, in der einzigen kommunalen Kita spielen seit Anfang diesen Jahres wegen Geldmangels des Bezirks keine Kinder mehr.

Trotzdem - die Victoriastädter lassen sich von den Widrigkeiten nicht unterkriegen. Als Ersatz für die geschlossene Bibliothek erkämpfte die Betroffenenvertretung die Eröffnung der Kaskelstube. In dem von der Hohenschönhausener Wohnungsbaugesellschaft sowie dem Bezirk finanzierten Kieztreff können seit Oktober vergangenen Jahres Bücher ausgeliehen oder einfach nur geplauscht werden.

Auch ein seit Jahren verfolgter Plan, einzelne Straßen des Kiezes in eine verkehrsberuhigte Zone zu verwandeln, wird von der Vertretung zurzeit erneut vehement gefordert. "In den frühen Morgen- und Abendstunden donnert der Berufsverkehr über die Pfarrstraße", ärgert sich Müller. Zudem würden die Straßen durch Autos der Mitarbeiter der Bundesanstalt für Angestellte - sie hat ihren Sitz an der Schreiberhauerstraße - zugeparkt. "Für Kinder ergibt sich dadurch eine vollkommen unübersichtliche Situation."

"Niedrige Mieten und Parkanlagen sind nicht das einzige, was einen Kiez attraktiv macht", sagt auch Michael Heinisch. Seit 18 Jahren ist der Sozialdiakon in der Victoriastadt aktiv. Anfang des Jahres eröffnete die Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg an der Pfarrstraße 91 eine Kita mit 60 Plätzen, die bereits jetzt voll ausgebucht ist. Heinisch will noch weitere Projekte anschieben. "Wenn wir es schaffen, hier Produkte anzubieten, die es berlinweit nicht oder nur selten gibt, könnten wir auch Besucher in den Kiez locken." So schwebt Heinisch eine Biorapsöltankstelle für Autos vor, die auf diesen Treibstoff umgestellt sind. Zudem setzen er und Müller darauf, dass sich kunsthandwerkliches Kleingewerbe ansiedelt.

Bürgermeister Wolfram Friedersdorff (PDS) steht dem Ansinnen skeptisch gegenüber und verweist auf Erfahrungen des jährlich vom Bezirk initiierten Victoriasommers. "Versuche, den Kiez mit Kunsthandwerk zu beleben, scheiterten trotz der für diesen Zeitraum kostenlos zur Verfügung gestellten Gewerberäume", bedauert er. So seien zwar nicht die Kunsthandwerker leider jedoch das Publikum ausgeblieben. Dennoch: In den vergangenen Jahren ist ein Zuzug insbesondere junger Menschen zu verzeichnen, die in Selbsthilfeprojekten Häuser aufbauten. So wie die 24-jährige Birgit Linse-Mohn. Die dreifache Mutter aus Charlottenburg kaufte gemeinsam mit ihrem Mann und elf weiteren jungen Leuten ein Haus an der Pfarrstraße und richteten das heruntergekommene Gebäude wieder her. Auch den Schöneberger Micha Schönstedt zog es 1991 in die Victoriastadt. Doch die Euphorie der Anfangszeit ist verblasst. "Damals hoffte ich, dass sich schnell ein Szeneleben mit Cafés und kleinen Läden entwickeln würde", blickt er auf die nicht erfüllte Vision zurück.

Hoffnung setzen viele Anwohner jetzt auf die aus EU-Mitteln finanzierte Initiative Urban II. Aus dem Programm sollen Gebiete mit schwacher Infrastruktur gefördert werden. Heinisch und Schönstedt wollen, dass ein Teil des Geldes in einen Kieztreff fließt, Händler aus dem Ökobereich bei der Unternehmensgründung unterstützt werden.

Beate K. Seiferth

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