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Berlin: Viele Frauen müssen heimlich kommen

Der sozialmedizinische Dienst soll dort geschlossen werden, wo er dringend gebraucht wird: in Wedding

Manche Frauen tragen Jeans und Lederjacke, andere Kopftuch und Gewänder – aber die Geschichten, die die Frauen in der Schlange vorm sozialmedizinischen Dienst in Wedding erzählen, klingen alle gleich. Wie beispielsweise die von Leila, 27 Jahre alt. Sie stammt aus dem arabischen Raum und möchte unerkannt bleiben. Zwangsverheiratet mit einem Cousin hat sie zwei Kinder von ihm bekommen. „Bei der dritten Schwangerschaft habe ich mich zu einem Abbruch entschlossen – ohne, dass mein Mann davon weiß. Die Unterstützung habe ich hier in der Beratungsstelle bekommen.“ Seitdem komme sie, um sich kostenlose Verhütungsmittel zu holen – und zu reden.

Die Frauen, die auf dem kargen Weddinger Amtsflur warten, sind hier, um sich zu Verhütung, Schwangerschaftsabbruch oder zu Familienfragen beraten zu lassen. Täglich kommen 60, 70 Frauen, über die Hälfte von ihnen Migrantinnen, insbesondere dienstags und donnerstags, wenn die türkische Dolmetscherin da ist.

Yasemin Yelmaz, 22 Jahre, kommt aus Ankara. So modern und selbstbewusst sie auch auftritt, sie spricht kein Wort Deutsch. „Nach dem dritten Kind habe ich mir hier von der Gynäkologin eine kostenlose Spirale einsetzen lassen, nun komme ich regelmäßig zur Kontrolle“, übersetzt die Dolmetscherin. In einer freien Arztpraxis hätte sie zwischen 150 und 400 Euro dafür bezahlen müssen. Geld, das ihre Familie nicht habe. Sie gehört zu den Frauen, deren Familie Bescheid weiß über die Besuche. Andere kommen heimlich. Frauen und Verhütung, das ist immer noch ein Tabuthema bei vielen Muslimen.

Doch mit der Anlaufstelle in direkter Nachbarschaft könnte bald Schluss sein: Der sozialmedizinische Dienst in der Ruheplatzstraße13, nahe dem Leopoldplatz, soll geschlossen werden. Hier, im Bezirk Mitte, wo laut Gesundheitsbericht nahezu doppelt so viele Fälle häuslicher Gewalt wie in anderen Bezirken registriert sind und der Ausländeranteil mit 28 Prozent noch vor dem von Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln liegt.

Die Probleme ballen sich vor allem in Wedding: Über 6000 Frauen sind allein 2005 zum sozialmedizinischen Dienst gekommen, ein Großteil stammt aus muslimischen Ländern. 662 Frauen, weil sie ihre Schwangerschaft abbrechen wollten, 4543 wegen Verhütung – viele ohne das Wissen ihrer Männer. Hinzu kommen 916 Frauen, die meisten aus Problemfamilien, die sich erst in der deutschen Gesellschaft orientieren müssen, die Fragen zu Geburt, Kindererziehung und Förderanträgen haben.

Schon im Juli sollen die sozialmedizinischen Dienste und HIV-Beratungsstellen der zwölf Berliner Bezirke zu vier „Zentren für sexuelle Gesundheit und Familienplanung“ in Charlottenburg-Wilmersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg, Steglitz-Zehlendorf und Marzahn-Hellersdorf zusammengelegt werden. Das hat der Senat beschlossen; doch noch haben die Bezirke dem Vorhaben nicht zugestimmt. „Der Sozialmedizinische Dienst sollte dort sein, wo die meisten Menschen ihn brauchen, hier in Wedding“, fordert der Leiter des Gesundheitsamtes Mitte, Stefan Busse, den Senat auf, die Standortregelung noch einmal zu überdenken. Busse befürchtet, Migrantinnen aus Brennpunkten wie der Koloniestraße oder um den Sparrplatz herum zu verlieren. „Mehr ungewollte Kinder, vor allem aber mehr Abtreibungen könnten die Folge sein.“

Gudrun Wachmann, seit 20 Jahren beim Dienst in Wedding, sagt: „Zu uns kommen die Ärmsten der Armen. Eine Fahrt nach Steglitz oder Marzahn ist für sie wie eine Reise nach Rom.“ Gerade die verschleierten Frauen, die kein Deutsch sprechen, könnten oft nicht länger als zwei Stunden von zu Hause weg, viele könnten nicht einmal den Stadtplan lesen. Die meisten hätten kein Geld für die Fahrkarte, sie kämen zu Fuß. „Unser größter Erfolg ist, dass 98 Prozent der Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch weiter zu uns kommen – um zu verhüten.“

So wie Leila. Seit ihrem heimlichen Abbruch vor sechs Jahren kommt sie regelmäßig. Zwar spricht sie fließend Deutsch, doch der lange Anfahrtsweg würde auch sie schrecken. „Mit zwei Kindern und Leben vom Job-Center ist es schwierig, die BVG-Karte zu zahlen.“ Yasemin Yelmaz, die nun schon seit sieben Jahren kommt, hätte ebenfalls Probleme bei einer Standortverlegung: „Ohne Deutschkenntnisse und mit drei Kindern, die ich selbst betreue, ist es schwierig, sich in einen anderen Bezirk durchzuschlagen.“

Die meisten Migrantinnen haben durch Schwestern und Cousinen oder durch die türkische Dolmetscherin, die schon lange im Kiez lebt, zum Sozialmedizinischen Dienst gefunden. Nun befürchtet Gudrun Wachmann, dass mit der Standortverlegung über zwei Jahrzehnte Vertrauensarbeit zunichtegemacht werden. Denn enorm seien die Ängste und Gewissensbisse der jungen Frauen, wenn sie gegen ihre Religion und den Familienkodex verstoßen würden. Inzwischen wissen die Helferinnen, wie man mit der Frage „Was würde Allah dazu sagen?“ umgehen kann. Doch noch immer sei ein Satz in der Beratungsstelle erschreckend oft zu hören: „Meine Brüder bringen mich um.“

Viele schaffen es erst mit der Hilfe der Sozialpädagoginnen und Ärztinnen, sich aus den Strukturen zu lösen. Leila ist in Deutschland geboren und hat einen deutschen Pass. Trotzdem sagt sie: „Erst hier in der Beratungsstelle habe ich gelernt, dass ich heiraten darf, wen ich will und nicht andere über mein Leben zu bestimmen haben.“ Am Ende des Gesprächs vertraut sie Gudrun Wachmann an: „Ich habe mich vor kurzem von meinem Mann getrennt.“ Sie will jetzt selbst die Zügel in die Hand nehmen.

Wie es weitergeht? „Die Bezirke sind aufgefordert, sich zu einigen“, sagt eine Sprecherin der Senatsverwaltung. Demnächst steht das Thema beim Rat der Bürgermeister auf der Tagesordnung.

Martha May

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