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Berlin: Vogelfrei

Die Beschleunigung ist heftiger als bei der Formel Eins. Wenn so ein Segelflugzeug aber erst einmal vom Aufwind getragen wird, bekommt auch die Seele Flügel

Von Annette Kögel

„Im Notfall hier an dem Griff ziehen“, sagt Jörg Lentz und rückt die rote Weste zurecht. Das ist also wirklich ein Fallschirm. Dabei will unsereins doch segelfliegen. Klack-klack, die Sitzgurte rasten ein. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Die Seilwinde zieht an, und es geht steil nach oben. Beschleunigung wie bei der Formel Eins. Der Magen fährt Achterbahn. Ausklinken in 500 Metern Höhe. Und plötzlich gleiten, schweben, wie auf Händen getragen und umgeben einzig vom Rauschen des Windes. Nur ein paar Zentimeter Glasfiber trennen uns von der Patchworkdecke aus Feldern, Wäldern und Dörfern auf der Erde.

Gut, dass der 62-jährige Segellehrer aus Lübars erst nach der Landung erzählt, dass der letzte tödliche Unfall gerade mal vier Wochen zurückliegt. Nur 50 Meter ging es hinauf, dann kippte das Flugzeug mit dem älteren, wohl gesundheitlich angeschlagenen Herrn über einen Flügel ab. Mit dem Alltag auf dem Gelände des Segelflug-Leistungszentrums Lüsse vom „Flugsportclub Charlottenburg FCC-Berlin e.V.“ nahe Belzig hat der tragische Todesfall aber wenig zu tun. „Ich fliege seit 38 Jahren“, sagt Lentz im Pilotensitz. Vertrauenserweckend. „Unter diesen Kumulus-Wolken mit den scharfen Konturen heben uns Aufwinde nach oben“, erklärt der Lübarser. Beruhigend.

Vor gut zehn Jahren hoben die ersten Segelflugzeuge auf dem einstigen Ausweich-Landeplatz für russische Maschinen südlich von Berlin ab. Inzwischen hat der Verein das Gelände vom Bundesvermögensamt gekauft und in Eigeninitiative gemeinsam mit dem „Märkischen Flugsportverein Lüsse MFL“ ausgebaut. Die Wege haben die 250 Mitglieder des FCC, der größte Segelflugverein der Region, selbst gepflastert. Die Clubjugend schaukelte aber lieber in den alten Autos über die Wiesen des Privatgrundstücks, führerscheinfrei, versteht sich.

Das ist hier oben unter der Plastikkuppel nicht möglich. 30 bis 40 Starts braucht es Jörg Lentz zufolge im Schnitt, bis jemand den Segelflugschein absolviert hat. Linkskurve, Rechtskurve, ganz sanft dirigiert der Mann am Steuer den Flieger durchs unsichtbare Element: völlig losgelöst. Seine schönsten Flüge? „Über Schweden, da kann man zwar nicht überall landen, aber dafür 300 Kilometer weit gucken.“ Unsereins überblickt immerhin 30 Kilometer Mark.

Angler breiten gern demonstrativ die Arme aus – Segelflieger zählen Stunden und Kilometer akribisch zusammen. „Unser Verein hat es zuletzt auf über 120 000 Kilometer in der Luft gebracht“, sagt der Pressesprecher des Charlottenburger Flugclubs, Gismut Schroeder. Dann hangeln sie sich von Aufwind zu Aufwind, einmal zur polnischen Grenze zur Nordsee und zurück. Acht, neun Stunden sind Flieger wie Lentz in der Luft. Und wie funktioniert – Sie wissen schon? Gefrierbeutel seien der Entsorgungstipp für Männer, Frauen tragen ungern, aber ausnahmsweise Windel.

Die ist beim Jungfernflug nicht nötig, obgleich es schon eine Ewigkeit her zu sein scheint, dass sich die Schleppwindseile mit metallischem Klicken vom Flugzeugbauch lösten. 250 Kilogramm Schulungsflugzeug ASK-21 heben nach wenigen Metern ab. Derzeit gleiten wir mit 110 durch den Himmel über Brandenburg – und sogar voll von der Tierwelt akzeptiert. Lentz: „Wenn wir Störchen folgen, die Aufwinde nutzen, fliegen die Tiere nicht weg, und andersherum orientieren sich Vögel an uns.“ Ein exklusives Erlebnis – aber deswegen nicht gleich unbezahlbar. 450 Euro kostet die Jahresmitgliedschaft im Verein, Jugendliche zahlen 250. „Bei uns treffen sich sämtliche Berufsgruppen in legerer Kleidung auf dem Flugfeld“, erzählt der Segellehrer im Cockpit. Zehn solcher Schnupperflüge kosten 150 Euro. Vor Mauerfall war das Vergnügen teurer – immer am Wochenende in die Rhön, in die Heide. Anders als damals kennt man sich in den rund einem Dutzend Berliner Segelflugclubs heute untereinander weniger. Jörg Lentz: „Früher trafen wir uns alle immer Auto schiebend am Grenzübergang.“

Grenzen, Mauern, Beschränkungen - was ist das schon. Hier oben ist man vor allem eines: vogelfrei.

Flugsportclub Charlottenburg FCC–Berlin. e.V., Am Flugplatz, 14806 Lüsse. Telefon: 033841-31339, Fax: -34932. Kontakt auch über den 1. Vorsitzenden Carsten Lindemann, Telefon 711 66 26. Im Internet: www.fcc-berlin.de . E-Mail: luesse@fcc-berlin.de .

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