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Premiere im Seniorenkreis. Steffen Reiche, früher SPD-Bundestagsabgeordneter, ist jetzt Pfarrer der evangelisch-reformierten Schlosskirchengemeinde. Foto: Moritz

© Georg Moritz

Berlin: Vom Plenarsaal auf die Kanzel

Der ehemalige SPD-Politiker Steffen Reiche ist jetzt Pfarrer in Köpenick

Berlin - Kaffee und Kuchen stehen auf dem Tisch mit der gelben Wachstischdecke. Ein halbes Dutzend älterer Menschen hat es sich auf den schweren Holzstühlen gemütlich gemacht. Am Kopfende sitzt ein Mann in einem hellblauen Sweatshirt: Steffen Reiche, der neue Pfarrer der evangelisch-reformierten Schlosskirchengemeinde, liest eine Geschichte vor. Zum ersten Mal ist er in diesem Seniorenkreis zu Gast. „Das hat er doch sehr schön gemacht“, sagt die 84-jährige Gertrud Brinkmann.

Es ist noch nicht sehr lange her, da saß Steffen Reiche im Bundestag: Vier Jahre war er dort SPD-Abgeordneter. Am 27. September 2009 war damit Schluss, Steffen Reiche verfehlte sein Direktmandat im Wahlkreis Cottbus. Und plötzlich stand der Theologe auf der Straße. „Andere ausgeschiedene Abgeordnete sind Lobbyisten geworden oder in die Wirtschaft gegangen“, sagt Steffen Reiche. „Aber ich wollte meinen guten Ruf nicht an ein Unternehmen verlieren.“ Ihm sei immer klar gewesen, dass er eines Tages in seinen alten Beruf als Pfarrer zurückkehren wollte. Denn Reiche empfand seinen Beruf stets auch als Berufung. „Mein Glaube hat mich immer getragen. Das Bewusstsein, dass es Gott gibt, der größer ist als alle unsere Probleme, lässt mich den Alltag in Ruhe und Gelassenheit erleben – ohne meinen Glauben wäre ich ein anderer Mensch.“

1989 war Reiche mit dabei, als evangelische Theologen die Sozialdemokratische Partei in der DDR gründeten. Mit seinen früheren Professoren Richard Schröder und Wolfgang Ullmann ging er in die Politik. „Damals ging es darum, die Freiheit, die wir uns erstritten hatten, zu gestalten“, erinnert sich Steffen Reiche. In Brandenburg gehörte er zehn Jahre der Landesregierung an, zuletzt als Minister für Bildung, Jugend und Sport. Und mit seiner Kirche stritt er sich sogar vor dem Bundesverfassungsgericht: Dass Reiche LER an den Schulen einführte, behagte den Protestanten gar nicht. Heute ist der Streit vergessen – erst vor wenigen Tagen war Steffen Reiche wieder einmal in einer Schule zu Gast. In einem Gymnasium in Treuenbrietzen gab er einige Stunden Religionsunterricht. „Eltern hatten angerufen, weil der Religionsunterricht ständig ausfiel“, erzählt der Pfarrer. Irgendwie sei es schon „ein merkwürdiges Gefühl“ gewesen, plötzlich als Religionslehrer vor den Schülern zu stehen. „Aber ich war ja nie gegen den Religionsunterricht – mir ging es darum, dass die Klasse bei so einem wichtigen Thema wie Religion und Ethik nicht aufgeteilt wird. Deswegen LER.“

Für den 75-jährigen Herbert Gerber aus dem Köpenicker Seniorenkreis ist das alles „Schnee von gestern“. Von der politischen Vergangenheit Reiches hat er gehört – für ihn aber ist der Theologe zunächst einmal der neue Pfarrer, der am Sonntag gleich zwei Mal auf der Kanzel steht. Und sich künftig nicht mehr in der großen Politik, sondern vor Ort in Köpenick für eine gerechtere Welt engagieren will: „Ich hoffe, dass wir hier Mittel und Wege finden, um der immer größeren Schere zwischen Arm und Reich etwas entgegenzusetzen.“

Der Pfarrer gibt sich kämpferisch. Gerade die Kirche müsse der „widernatürlichen sozialen Ungerechtigkeit“ auch öffentlich widersprechen. Denn die Gesellschaft mitgestalten, das will Steffen Reiche immer noch. Benjamin Lassiwe

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