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Berlin: Vom Schlager der Goldenen Zwanziger konserviert

Je höher der Ton, desto schneller wachsen die Herren Tenöre auf die Zehenspitzen. Wie ein Reihe Pinguine stehen sie da, eine Flosse hält das Notenbuch.

Je höher der Ton, desto schneller wachsen die Herren Tenöre auf die Zehenspitzen. Wie ein Reihe Pinguine stehen sie da, eine Flosse hält das Notenbuch. Wenn die erste Reihe Frack sich nach links bewegt, schwenkt die hintere Reihe auf Lücke nach rechts. In die Frackjacken sind wahrscheinlich Besenstiele eingenäht. Ganz links: der Vorsänger, Arrangeur, geistiger Wegbereiter und Dompteur der Berliner Hymnentafel, Werner Kotsch. Daneben: Michael Uhl, dessen gebeutelter Pianisten-Rundrücken gepaart mit zweideutigem Grinsen auf sympathische Weise an die Muppet Show erinnern. "Zwei rote Rosen, ein zarter Kuss (zarter Kuss, zarter Kuss)", singen die Herren mit dem zarten Schmelz und den blasierten Blicken auf Kotsches Kommando - und das nun schon seit einem Vierteljahrhundert. Verbeugen sich die singenden Butler, und das tun sie ziemlich oft, kann man vereinzelt schütteres Haar notieren. Davon abgesehen zeigt sich schnell: Die Berliner Hymnentafel steht voll im Saft. Das Singen von Schlagern à la Comedian Harmonists konserviert offensichtlich.

Unter dem Namen "Vaterländische Liedertafel" gründete sich der Männerchor 1974. Bereits im Jahr darauf absolvierten die Herren erste Auftritte in ihrer Stammkneipe "Galerie Natubs" - Schauplatz unzähliger feucht-fröhlich-konspirativer Zusammenkünfte der Sangesfreunde. "Die Galerie Natubs war unser Nest, eine Musiker-Kneipe, für die es heute keinen Ersatz gibt." Werner Kotsch trauert kurz den alten Zeiten hinterher: Zwischen den 70er Jahren und heute liegen Um- und Neubesetzungen, zahllose Repertoire-Erweiterungen, drei Tonträger und natürlich furiose Auftritte bei den Berliner Festwochen, in Funk und Fernsehen, mit Otto Waalkes, bei Messen, Eröffnungen, Ausstellungen.

Fünf Gründungsmitglieder sind immer noch mit Verve dabei. "Dieser Zusammenhalt ist fast unnormal", wundert sich Werner Kotsch, der seine Herrenriege immer noch einmal wöchentlich zum Proben zusammentrommelt und ganz leise redet, weil "singen nicht so schlimm ist wie reden".

Der Zehlendorfer Musiklehrer ist schon von Kindesbeinen an schlagerversessen. Auf dem Flohmarkt hat Kotsch schon so manches vergilbte Vereinsliederbuch entdeckt, die Titel neu arrangiert und eingeübt - zum Beispiel den "Ruderspiegel", dem Kotsch und seine Kollegen lächerliche 51 Strophen dazudichteten. "Inzwischen habe ich einen ganzen Sack voller Liederbücher, die mir Freunde mitbringen. Ich komme gar nicht dazu, sie alle zu lesen."

Neuerdings brilliert das Ensemble mit einer Art Wörthersee-Poetry-Slam, einem Simultanvortrag von ineinander geschachtelten Schmalz- und Schmähstrophen. Das Publikum brüllt stets vor Lachen, und so besteht das Programm der "Berliner Hymnentafel" von vornherein fast nur aus Zugaben - kaum zu glauben, dass die todernsten Mienen der Männer dabei nur selten zu einem Grinsen verrutschen. "Wir sind schon so aufeinander eingespielt, dass uns das Publikum manchmal auf eine Pointe hinweisen muss", erzählt Kotsch.

Kokett trällern die Männer ihren Lobgesang auf Charlottenburg oder interpretieren Schubert-Lieder mit unverwechselbarer Doppelzüngigkeit, die sie über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht hat. Gegen einen Frosch im Hals kämpft die Berliner Hymnentafel nur selten: Sie sind eben 25 und kein bisschen heiser. Heute abend gibt die Berliner Hymnentafel im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek ein Jubiläumskonzert. Karten zum Preis von 20 bis 30 Mark sind noch an der Abendkasse erhältlich.

Esther Kogelboom

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