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Berlin: Von Aufbruchstimmung ist bei dem alternativen Vorzeigeprojekt in Kreuzberg nichts mehr zu spüren

"Die Toiletten gehören auch zum Wirkungskreis." So steht es als Erinnerung für den Putzdienst am Schwarzen Brett im ersten Geschoß des Mehringhofs in Kreuzberg.

"Die Toiletten gehören auch zum Wirkungskreis." So steht es als Erinnerung für den Putzdienst am Schwarzen Brett im ersten Geschoß des Mehringhofs in Kreuzberg. Es geht um das "solidarische Aufteilen der Putzaktion". Zwanzig Jahre wird schon um Solidarität gerungen, was das Kloputzen angeht. Da hat sich nichts geändert. Überhaupt scheint sich auf dem Hinterhof der Gneisenstraße 2a seit 1979 wenig geändert zu haben.

Man kommt alternativ daher. Bunt gemischt vom anachronistischen Latzhosenträger bis hin zum Punk mit grünen Haaren in seinen zerrissenen Jeans begegnet man sich auf dem über 5000 Quadratmeter großen Hinterhofgelände. Seit zwei Jahrzehnten funktioniert die Selbstverwaltung des Hauses. Es begann nicht, wie damals in der linken Szene üblich, mit einer Hausbesetzung, sondern mit dem Kauf von Häusern. "Dafür sind wir übelst beschimpft worden", erinnert sich Rainer Nietsche, damals Lehrer an der Schule für Erwachsenenbildung (SfE). Schließlich galt der politische Kampf Ende der 70er Jahre dem "kapitalischen System" und dann gehörte man quasi selbst dazu. Aber die SfE benötigte größere Räume. Der zweite Bildungsweg boomte. Zusammen mit einer Handvoll alternativer Projekte kaufte man für 1,7 Millionen DM das Fabrikgrundstück der Firma Berthold.

Daraus entstand der Mehringhof. Unter seinem Dach fanden viele Projekte eine politische Heimat: kollektiv organisierte Handwerksbetriebe, Kinderläden, etliche politisch links orientierte Projekte, heute sind es 35. Zehn Betriebe der ersten Stunde sind noch dabei.

Dazu gehört die SfE, der Bioladenbelieferer Ökotopia, der linke Stattbuch Verlag und die Kneipe "Ex". Denkt Rainer Nietsche an die Zeit, als alles begann, kommt er kurz ins Schwärmen. Wagemut und Fröhlichkeit hätten damals die Atmosphäre bestimmt, "heute sind wir ein Stück Museum aus der West-Berliner Zeit." Doch melancholisch ist der ehemalige SfE-Lehrer nicht, eher analytisch.

"Unser Modell der Gegen-Ökonomie war naiv, doch es gab keine Hemmungen, etwas zu machen. Heute wäre so etwas nicht noch einmal möglich, weder politisch noch ökonomisch." Nietsche selbst gründete 1981 den Transit-Buchverlag im Mehringhof. Seinem Verlag "geht es relativ gut", sagt Nietsche. Andere haben es schwerer. Zum Beispiel der politische Förderfonds Netzwerk, der derzeit rund 50 Vereine unterstützt. Auch Netzwerk gehört zum Urgestein im Mehringhof.

"Uns geht es schlecht", sagt Peter Finger, der bereits 1982 dem Netzwerk-Vorstand angehörte. Seit einem Jahr ist das Gründungsmitglied der Berliner Alternativen Liste wieder bei Netzwerk aktiv. Diesmal "als Mädchen für alles - vor allem für die Finanzen". Denn nur die Projekte überleben, so Finger, "die sich im Kapitalismus in einer Nische behaupten können". Und das würde immer schwieriger. Früher hatte Netzwerk über 3000 Mitglieder, heute sind es 750. "Netzwerk lebt nur noch von der 68er Generation."

Trotz der Probleme einzelner Projekte ist im Mehringhof die Mieter-Fluktuation gering und die Warteliste für freie Gewerberäume lang. Für Hausmeister Peter sind es genau diese "Urfossile", die dem Mehringhof seine besondere Atmosphäre geben. Er meint nicht nur das Kleinbewerbe wie Fahrradladen oder Druckerei, sondern erwähnt auch das Mehringhof-Theater sowie die vielen sozialen Einrichtungen von den ambulanten Diensten bis zum Büro für medizinische Flüchtlingshilfe. 120 Menschen arbeiten derzeit im Kreuzberger Hinterhof.

Immer noch verwalten sich die Betriebe und Projekte selber. Einmal im Monat sitzen alle Mehringhof-Mieter zusammen. Derzeit zahlen alle Mieter pro Quadratmeter 8,90 Mark. Alles fließt in einen Topf. Damit "wird das grosse Schiff unter Dampf gehalten", wie der Hauswart es ausdrückt. Von dem Geld werden Reparaturen und Betriebskosten bezahlt und der 20 Jahre alte Kredit abgestottert. Zusammen wird entschieden, wer zum Beispiel als neuer Mieter einziehen darf oder unter was für einem Motto die große Mehringhof-Geburtstagsparty am 18. September stehen soll. Man will ein "konsumfreies" Kinderfest machen.

Beim monatlichen Plenum sitzen auch die vier Gesellschafter dabei, denen formell der Mehringhof gehört. Formell ist wichtig, denn es gibt keine Hierarchie. Gesellschafter im Mehringhof haben kein besonderes Stimmrecht. Und doch sind sie etwas besonderes. Denn die Immobilie, die nur fünf Fahrradminuten vom Potsdamer Platz entfernt liegt, ist nach 1989 stark im Wert gestiegen. Nach letzten Schätzungen ist der Mehringhof 30 Millionen Mark wert.

Zwar besagt eine Klausel, daß jeder Gesellschafter nur den Anteil, den er eingezahlt hat (50 000 DM), auch wieder herausnehmen kann. "Ob das juristisch Bestand hat, ist unklar", sagt Klara Luckmann von der Mehringhof-Verwaltung, zuständig für Buchhaltung und Image. Seit Jahren überlegt man daher schon, die GmbH in eine Stiftung umzuwandeln, um so den Griff in die Immobilienkasse auszuschließen. "Schließlich wollen wir weiterleben", sagt Klara Luckmann. Das Konzept stimme, man sei wirtschaftlich, inhaltlich und personell stabil - "und das mit Null Pfennig Staatsknete". Also ohne staatliche Subventionen.

Wie die einzelnen Projekte überleben, ist dagegen Privatsache. Auch das ist Autonomie. Wer nicht wirtschaften kann, macht eben Pleite. So kann der Fahrradladen die derzeitige Flaute in der Branche und die starke Konkurrenz durch Billiganbieter nur überleben, indem er geringe Löhne zahlt. "Reich ist hier noch niemand geworden", sagt Klara Luckmann.

Aber älter und ruhiger. Viele Mieter sind über 50 Jahre. Sie sind zusammen mit dem Mehringhof grau geworden. Ein bißchen bröckelt die Fassade - bei beiden. Darüber kann auch das junge Kneipenpublikum nicht hinwegtäuschen. Von Umbruchstimmung oder Gründer-Euphorie ist nichts mehr zu spüren. Klaus Trappmann, seit über 20 Jahren Lehrer an der SfE, spricht vom Mehringhof als einem "befriedeten Raum", in dem man gemütlich auf der Dachterrasse oder im Cafe sitzen kann. "Diese Idylle genieße ich schon", sagt der 51jährige.

"Es ist nicht mehr so politisch wie früher", sagt ein Mittfünfziger, der im "Ex" sein Feierabendbier trinkt. Sogar das Mehringhoftheater mache immer mehr auf Klamauk und setze nicht mehr nur auf politisches Kabarett. Vielleicht liege das auch an Prenzlauer Berg, wohin die Szene abgewandert sei. Oder am "Existenzkampf", der immer härter werde, philosophiert er.

Wahrscheinlich sitzt er deshalb so gern im Kneipenkolletiv "Ex", umringt von SfE-Schülern. Hier ist noch etwas vom alten Mehringhof-Geist zu spüren. Innen hängen Aufrufe zur Antikriegs-Blockade oder man findet eine Kontonummer "zur Finanzierung des Farbbeutels gegen den Krieg, Stichwort Aufprall". Allein sieben Spendendosen stehen auf der Zapfanlage. "Solidarität Zapatista", "Lautsprecherwagen", "Antifa-Archiv" - für jeden etwas. Und doch steckt System dahinter. Denn das "Ex" wird von mehr als 20 Gruppen aus der ganzen Stadt gemeinsam betrieben. Über 200 Mitglieder arbeiten hinter der Theke, ohne einen Pfennig dafür zu kassieren. Das macht nicht nur das Bier billig. Der Überschuss wandert in die Spendendosen und auf die Konten der unterschiedlichsten sozialen und politischen Projekte. Wie früher.

Burkhard Keeve

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