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Zeitzeuge. Nach der Wende war Rainer Boldt Chef der Interessengemeinschaft der Gewerbetreibenden an der Friedrichstraße.

© Mike Wolff

Von der Wende bis heute: Wie sich die Friedrichstraße wandelte

Erst Totentanz, dann Ku’damm Ost: Rainer Boldt hat den Wandel der Friedrichstraße begleitet. Ein Rundgang mit Erinnerungen und Visionen.

Unser Mann wohnt weit im Berliner Westen, und dennoch – oder gerade deshalb – liegt „sein“ Kiez im nahen Osten. Er hat nichts dagegen, wenn man ihn, Rainer Boldt, „Mister Friedrichstraße“ nennt. Der Ur-Berliner sagt, „ick bin een Achtundsechziger“ und meint damit sein Alter. Seit der Wende ist dem Bankkaufmann die 3,3 Kilometer lange Nord-Süd-Magistrale mit all ihren Verästelungen irgendwie zur Herzenssache geworden. Als langjähriger Vorsitzender der Interessengemeinschaft der Gewerbetreibenden an der Friedrichstraße hat er Aufschwung und Aufstieg in der Friedrichstraße erlebt und als Filialleiter auch mit den Geldern „seiner“ Dresdner Bank finanziert.

„1992 standen hier die großen Investoren auf der Matte, aber da draußen war Totentanz“: Die Bankmenschen aßen mittags in der Kantine des Dom-Hotels, etwas anderes gab es nicht. Man war gespannt, wie die 1,4 Milliarden D-Mark zur Auferstehung der Friedrichstraße mit den gläsernen neuen Friedrichstadtpassagen angelegt werden.

Die Friedrichstadtpassagen ließ ein Investor gleich 1992 abreißen

Auch die DDR hatte ja Pläne, das Gebiet zwischen Checkpoint Charlie und Oranienburger Tor ein wenig großstädtischer zu gestalten. Der Bau der Friedrichstadtpassagen war zu sechzig Prozent gediehen, als ein französisch-amerikanisches Konsortium für 85 Millionen D-Mark die Rohbauten kaufte, um sie abzureißen. Der Architekt Manfred Prasser musste sich das von seinem Arbeitszimmer aus ansehen. Das war im Jahr 1992. Damals kam das erste Gesamt-Berliner Telefonbuch seit 44 Jahren heraus: drei Bände, 1,35 Millionen Einträge.

Dann startete der Bauboom. Busse und Taxis dürfen wieder durchs Brandenburger Tor fahren, Bayern kauft das Grundstück Behrenstraße für die künftige Landesvertretung des Freistaates, und der gebürtige Saarländer Roland Mary eröffnet in den Räumlichkeiten des ursprünglich von August F. W. Borchardt gegründeten Unternehmens in der Französischen Straße das Restaurant Borchardt. In dem 1895 erbauten Gründerzeitsaal war noch, kurz bevor der letzte das Licht ausknipste, ein Fischrestaurant: „Fisch auf jeden Tisch“, riet der Fischkoch der DDR.

Aus dem Dom-Hotel wurde das Hilton

Jetzt gerät Rainer Boldt beim Spaziergang durch die Friedrichstraße schon ein wenig in ihre Abzweigungen. Die heißen längst wieder, wie sie früher hießen: Der Platz der Akademie ist der Gendarmenmarkt, die Otto-Nuschke-Straße die Jägerstraße, die Taubenstraße ersetzt die Johannes-Dieckmann-Straße und die Wilhelm-Külz-Straße erhielt ihren alten Namen: Markgrafenstraße. Aus dem Dom-Hotel wurde für 300 Millionen DM das Hilton, soviel hatte der US-Konzern der Treuhand überwiesen.

Rainer Boldt redet sich in Rage. Er kennt alles in dieser prominenten Gegend, Häuser mit ihren Geschichten und Menschen, die Geschichte machten. Neugier treibt ihn, immer mehr zu erkunden: Die Zeiten, als hier das Nachtleben tobte und die Jux-Meile den vornehmen Ku’damm in den Schatten stellte. Also sich die Friedrichstraße wandelte, hatte es auch Rainer Boldt mit den Reichen und Schönen zu tun, eilte von einer Grundsteinlegung zum nächsten Richtfest und hatte plötzlich ein neues Hobby – das Sammeln alter Postkarten.

Über 3000 hat er mittlerweile, alle zum Thema Linden/Friedrichstraße. Ganz Deutschland schien sich einst in Berlin verabredet zu haben, „hier musste man eben einmal im Leben jewesen sein“. Mit Vergrößerungen dieser Momentaufnahmen der Stadt und ihrer Bewohner mit den Haaren auf den Zähnen verzierte die BVG jüngst ihre Bauzäune beim U-Bahn-Bau, irgendwann werden nur noch Fotos und Gemälde an altes Leben in der Friedrichstadt erinnern. Neues kommt dazu zwischen S-Bahnhof und Oranienburger Tor, in der Theater-, Varieté-, Kabarett- und Hotelmeile rund um den Bahnhof Friedrichstraße.

Pleiten und Überflieger

Erinnerungen? Ein Trauerspiel war das Wirken René Kollos im Metropoltheater, dem heutigen Admiralspalast. „Es war Ende Mai 1995, als der Star-Tenor energisch aufrichten sollte, was elegisch darnieder lag. Mit Luxussanierung seiner Gemächer und einer Telefonrechnung von 11 000 Mark fing er vielversprechend an – und ließ 400 Mitarbeiter über die Klinge springen“.

Vom Bahnhof aus gesehen: Rund um den Admiralspalast war 1991 noch eine andere Welt.
Vom Bahnhof aus gesehen: Rund um den Admiralspalast war 1991 noch eine andere Welt.

© Imago

Da gab es viel bessere Beispiele für Mut und Unternehmergeist: Das „Entrecôte“ in der Schützenstraße hat sich als französische Brasserie etabliert, als ringsum noch die Kräne kreisten. Das Melia-Hotel mit seinem Traumblick auf die Spree unter der Weidendammer Brücke ist eine große Bereicherung, wie das Kulturkaufhaus Dussmann. Am Vorgängerbau hing eine Plakette mit dem Hinweis, dass Friedrich Engels früher hier gewohnt habe. Heißsporne schlugen die Tafel ab, Herr Dussmann wollte sie gern wieder haben, „war ja schließlich ein Stück Stadtgeschichte.“ Hat aber nicht geklappt.

Ein dunkler Punkt am Ku'damm Ost

Heute hasten die Menschen durch die Straßen, Touristen zielloser als Einheimische. Die verschwinden in den steinernen Blöcken ohne Zierrat, unpersönlich und kalt. Innen spielt die Musik, nahezu sämtliche Büros sind vermietet, aber das vornehme Quartier 206 hat ein Problem und zugepappte Schaufenster.

Und nicht nur das: Während der Besucher noch diesen Kegel im gläsernen Lafayette bewundert und, wenn er möchte, Austern mit Champagner schlürft, gerät er im Untergeschoss, im Durchgang zum Quartier 206, in ein Dilemma. Im einst so sorgfältig gestylten Trakt rund um die Skulptur aus zerquetschten Autos sind Insolvenz und Unsicherheit zu spüren. Kein Flügel spielt verträumte Weisen, die Gastronomie ist ebenso geschlossen wie Mode-Geschäfte. Traurig. Wahrlich ein dunkler Punkt am Ku’damm Ost.

Wie geht es weiter am Checkpoint Charlie?

Es nieselt. Rainer Boldt setzt sich Backwerk ins „Leysieffer“, wärmt sich am Cappuccino und blickt in die Glaskugel: Kommt endlich der bauliche Lückenschluss am Checkpoint Charlie? Wann ist die Wilhelmstraße an der Britischen Botschaft endlich nicht mehr zugepollert? Wann kommt der virtuelle Rundgang durch die Friedrichstraße, der wegen „unüberbrückbarer Verwaltungsprobleme“ auf Eis liegt? Wann bekommt der Tiergarten einen Gartenbaudirektor?

Aus den zwei Städtchen, die Berlin bis 1989 war, ist eine völlig neue Stadt geworden. Doch die Verwaltung ist nicht mitgewachsen. Mittelmaß. Was man von der alten, neuen Friedrichstraße beileibe nicht sagen kann.

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