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Von Tag zu Tag: Allein im Oberdeck

Gerd Nowakowski wünscht, dass die blonde Frau irgendwo ein Ziel findet

Unendlich müde sieht sie aus, die Frau, die am Abend im Oberdeck des Busses sitzt; allein auf einer Bank. Die blonde Frau, Haare hinten zusammengesteckt, gepflegt, gut gekleidet und mit großer Handtasche, sieht den Fahrgast erschrocken an, der sich auf die Bank hinter ihr setzt. Der schaut ebenso verblüfft – das Gesicht kennt er doch aus den Zeitungen. Sie sind die Frau vom Flughafen, möchte er sagen – und lässt es. Er fragt stattdessen: Kann ich Ihnen helfen?

Ob sie ihn versteht, weiss er nicht; sie schaut ihn nur kurz an und schüttelt den Kopf, sagt dabei kein Wort. Dann lehnt sie sich an die Fensterscheibe, an der draußen der Regen herunterrinnt, legt das rechte Bein nach vorne neben die vordere Sitzreihe und schließt wieder die Augen. Sie weiss, dass inzwischen die ganze Stadt sie kennt, das Phantom vom Flughafen, die in Berlin gestrandete Finnin. Deswegen ist sie auch hier auf der Flucht, vor sich, vor den Menschen, die sie anstarren. In ihrer Heimat haben sie inzwischen einen Vormund für die psychisch kranke Frau bestellt, doch sie will nicht dorthin zurück, wo einst ihr geregeltes Leben in Trümmer fiel.

Deswegen ist sie täglich zwanghaft in Bewegung, so beständig unterwegs zu einem unbekannten Ort, dass darüber der Weg wohl längst das Ziel geworden ist. Wer kann ihr helfen, wie können wir helfen, fragt sich der Fahrgast. Die Kreditkarte habe sie weggeworfen, heißt es, das Geld sei ihr ausgegangen. Wie bezahlt sie die Fahrkarte? Was passiert, wenn BVG-Kontrolleure kommen? Die blonde Frau schläft – allein auf ihrer Bank; ganz nah und zugleich weit entfernt von allen Menschen. Sie fährt weiter durch Berlin. Bis zu irgend einer Endhaltestelle.

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