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Von Tag zu Tag: Der Umweg

Thomas Lackmann glaubt an das Gute im Charlottenburger – vielleicht.

Könnte die Menschheit ab sofort neue Zukunftswege gehen, um ihre zerstörerischen Trampelpfade zu verlassen? Auf einem bislang ziemlich ramponierten Platz zwischen Kant-, Holtzendorff- und Suarezstraße wird gerade, zur Beantwortung dieser fundamentalen Frage, ein sozialpsychologisches Experiment durchgeführt: unter Anteilnahme von Optimisten und Skeptikern. Mit solchen Versuchsanordnungen lässt sich allerlei beweisen. Eine berüchtigte, das Milgram-Experiment, hat uns vor gut 50 Jahren vorgeführt, dass der Mensch unter Autoritätsdruck zu ziemlich schlimmen Dingen bereit ist. Da müsste man ihn doch mit ein bisschen Autorität wenigstens dazu kriegen, zarte Pflänzchen zu schonen!, meinen die Optimisten.

Denn der Amtsgerichtsplatz, auf dem die kollektive Charakterprobe seit ein paar Wochen läuft, ist seit Menschengedenken als verwahrlostes Wiesenstück auf den Hund gekommen, auch wenn hübsche Randbepflanzung ihn aufwerten soll und seitwärts ein schwarzes Denkmal an ein Menschheitsverbrechen erinnert. Diagonal über die Wiese, vom Gericht zur Bushaltestelle, marschieren tagein tagaus gejagte Zeitgenossen ihre Abkürzung von A nach B. Ein grünes Metallband in Wadenhöhe signalisiert an der Nord- und Südflanke des Karrees in Richtung Gehsteig, dass der Rasen nicht überquert werden möchte. Ein zehn Meter breiter Metallzaun schirmt die Anlage während der Laufzeit des Experiments vor Rabauken ab, an beiden Seiten mahnt dahinter ein kleines grünes Schild: „Grassaat bitte nicht betreten“. Denn den Trampelpfad hat man umgepflügt, Rasen ist ausgesät worden, der bereits, von Herbstlaub gefleckt, schütter zu sprießen beginnt, in der Hoffnung, dass die Fläche sich irgendwann zum wogenden Wiesenmeer schließen muss – und dass diese Gräserpracht dann, auch ohne Zaun, kommenden Attacken vereinzelter Bürgertrampel standhält!

Wird der Mensch, speziell der Berliner, bereit sein, umzudenken? Sich selbst umzulenken? Der Schönheit seines Kiezes ein paar Umweg-Sekunden zu schenken? Oder behalten jene Skeptiker recht, die maulen, dass es doch längst Usus sei, Gartenanlagen anhand vorhandener Trampelspuren zu konzipieren? Eine Planstelle zur Rund-um-die-Uhr-Kontrolle des künftigen Umwegverhaltens ist jedenfalls beim Ordnungsamt nicht vorgesehen. Die Kneipe gegenüber heißt „Freispruch“.

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