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Von Tag zu Tag: Ganz nackt

Bernd Matthies wundert sich über einen skrupellosen Amateurreporter

Ein nackter Mann kriecht auf allen Vieren desorientiert über die Neuköllner Straße. Die Passanten wissen nicht, was sie mit ihm anfangen sollen, gaffen, kichern. Einer von ihnen hat aber noch eine bessere Idee: Er holt ein Handy heraus, fotografiert das Elend und schickt die Bilder zu jener großen Zeitung, die auf so etwas nur wartet. Wenig später ist Andreas V. (24) zum „Bild-Leserreporter 1414“ ernannt und um ein paar hundert Euro reicher. Und in der Redaktion dichten sie fix was zu den Fotos hinzu: „War es ein Puffgänger, der zu viel Schampus intus und seine Klamotten vergessen hatte? War es eine Wette? Oder einfach das warme Wetter? Das bleibt wohl das Geheimnis des Nackten aus Neukölln …“

Bleibt es nicht. Denn wie die Polizei problemlos bestätigt hätte, wurde der Mann kurz nach dem Vorfall in die Psychiatrie eingeliefert. Offenbar gab es noch ein paar Passanten, die Hilfe holten, statt das Elend eines Verwirrten auszuschlachten.

Menschenwürde ist eben nur noch irgendein Wort, und zwar ein ziemlich störendes, wenn es um Bilder, Voyeurismus und Profitsucht geht, die Grundlage des Bild-Leserreporter-Unwesens – daran sind wir ja fast schon gewöhnt. Dass aber ein Kranker nicht nur ungefragt zur Schau gestellt, sondern auch noch als debiler Puffgänger verhöhnt wird, das ist dennoch eine bemerkenswerte Neuerung. Vielleicht schickt der Leserreporter dem Presserat ja mal seine Dateien. Honorar wird er dafür allerdings nicht bekommen.

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