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Von Tag zu Tag: Sog der Finsternis

Andreas Conrad schaut heute in den U-Bahntunnel.

Wer kennt es nicht, diesen Sog des Dunkels am Ende des Bahnsteigs? Man steht dort müßig herum, wartet auf die U-Bahn, glotzt in die Finsternis, in deren Ferne allenfalls noch ein paar matte Glühbirnen blinken – und fragt sich, was dort wohl verborgen sein könnte. Doch, geben Sie es zu, ein gewisser Reiz ist da, jetzt einfach drauflos zu spazieren, dem Ungewissen im Untergrund entgegen – es müssen ja nicht gleich exterrestrische Lindwürmer sein wie bei „Men in Black“ oder jäh aufbrechende Lavaströme wie in „Volcano“. Natürlich unterdrückt der normale U-Bahnnutzer diesen dunklen Trieb, er ist ja nicht lebensmüde, und doch ...

Man könnte dieses Phänomen als ungestillte Sehnsucht nach dem Tunnelblick umschreiben. Nach einer künstlichen Beschränkung des dem Menschen naturgegebenen Weitblicks, aus Lust an einer Beschneidung der Überfülle an Informationen, die sonst auf uns herniederprasselt. Vielleicht ist es aber gerade umgekehrt die Hoffnung auf Erweiterung des Horizonts, die im Dunkel der Röhre unserer vielleicht harrt. Man hat zu solch einer Form des Erlebens wenig Gelegenheit, jedenfalls nicht in diesem Dunkel der Stadt. Rechnet man also zur natürlichen Neugier des Menschen die besondere des Berliners hinzu, wird man sich eine Vorstellung davon machen können, wie es an diesem Sonntag im U 6-Tunnel zugeht.

Ein gewisser Eroberungswille ist sicher auch dabei, der Drang, Orte, zu denen der Zugang verwehrt ist, nun doch noch für sich zu reklamieren. U-Bahnhöfe lange vor der Eröffnung als Partyort nutzen wie den am Reichstag, in dem 2003 die „Findet Nemo“-Premiere gefeiert wurde, samt Robbie Williams als Stargast? Aber gern doch! Auf den bundesdeutschen Autobahnen herumspazieren, damals während der autofreien Sonntage 1973? Wir waren dabei. Bei den jährlichen Sternfahrten der Radler über die Avus strampeln? Nichts lieber als das. Und es gibt auch ein Vorbild zu dem, was heute auf der U6 los sein dürfte. Das war am 19. März 2006. Damals stand die Freigabe des Tiergartentunnels für den Autoverkehr unmittelbar bevor, aber zuvor durften die Fußgänger rein. Es wurde zum Volksfest mit Bratwurst und Bier: 60 000 Berliner und Brandenburger fanden sich ein und guckten in die Röhre.

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