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Achtung, Depressionsgefahr: Nicht einmal die Farbenpracht vor dem Reichstag kann darüber hinwegtäuschen, dass der herrlichste Altweibersommer in den Winter übergeht.

© dpa

Von Tag zu Tag: Unterm Elfenschleier

Die zwiespältige Jahreszeit, wenn die Tage kurz werden, sollte niemanden entmutigen. Thomas Lackmann läuft durchs Laub und liest Herbstgedichte.

Das feurige Farbenmenü hauptstädtischer Blätterpracht, milder Sonnenfunzelspot überm Berlin Indian Summer und schmusige Mallorca-Temperaturen kiezauf kiezab mögen niemanden täuschen: Der gemeine Herbst, selbst wo er so saumäßig sympathisch daherkommt wie an diesen lauen Tagen, ist eine gefährliche Saison.

Jedenfalls für den Deutschen Wetterdienst der Bundesrepublik Deutschland (BRD): dem vor 25 Jahren, als weltpolitisch sonst nichts Großes auf der Agenda stand, eine 78-jährige Bürgerin das diskriminierende Wort „Altweibersommer“ verbieten wollte. Seit damals ist freilich in puncto Aufklärung viel passiert. Zum einen befand das Landgericht Darmstadt, Persönlichkeitsrechte der Klägerin seien nicht verletzt, da hier der Personenkreis potenziell betroffener Individuen unüberschaubar groß sei. Weshalb von der Herabwürdigung einer bestimmten Gruppe keine Rede sei; die BRD wurde, schon aus demografischen Gründen, freigesprochen. Zum andern ist uns inzwischen klar geworden, dass der inkriminierte Begriff mit vermintem Gender-Terrain wenig zu tun hat, sondern eher von Baldachinspinnen herrührt, die verträumt durchs Quartal schweben und so ihre Flugfäden herstellen: was manche Betrachter an das althochdeutsche „Weiben“, andere an das Haar betagter MenschInnen erinnern mag. Die Spinnenlesart hatte anno dazumal bereits der Poet Wilhelm Busch durch sein Gedicht „Im Herbst“ unterstützt: „Sie weben zu des Tages Feier / Mit kunstgeübtem Hinterbein / Ganz allerliebste Elfenschleier / Als Schmuck für Wiese, Flur und Hain.“ Angesichts nahenden Wintertrübsinns ermuntert uns das kunstgeübte Hinterbein des bayerischen Humoristen, selbst an der Spree dem düsteren Jahresendspurt frohe Seiten abzugewinnen – ohne die Balance zu verlieren.

Herbstdichtung soll dabei helfen: Zwiespalt und Zwielicht, wie sie zum September, Oktober, November gehören, durch therapeutische Umschreibungen, Euphemismen und Assoziationen zu bewältigen. Melancholisch muss solch ein Reimwerk nicht unbedingt daherkommen, das bewiesen 1990 in ihrer eher politisch orientierten Ballade „Schweineherbst“ die Punk-Propheten von „Slime“: „Der Regen zog im Westen auf und wusch das Land hinfort / Frohsinn Dummheit Ausverkauf und dieses große Wort / Deutschland ein Land kotzt sich aus / einen alten braunen Brei / seh ich aus dem Fenster wird mir übel von dieser Heuchelei.“ Als Lyriker darf man die gegenwärtige Saison offenbar durchaus kritisch sehen und sogar voraussagen, dass nach dem goldigen Oktoberfest ein ekliges Tief die Region überfällt. Dem Reinen ist alles Reim; obgleich nicht jeder Kreative über die literarische Wucht der Berliner Insterburg & Co verfügt, denen bereits 20 Jahre vor „Slime“ mit ihrem Zweizeiler „Da sprach der Herbst zum Blättelein / Nun falle ab, du altes Schwein“ ein ungleich radikaleres Statement zur Jahreszeit gelungen war.

Oder bleiben gerade jetzt, in diesem Klimawandel-Jahr, die zahllosen immer noch grünen Blätter erstmals am Baum? Beim Deutschen Wetterdienst für Brandenburg und Berlin macht man sich dazu keinen Kopf. Auch das Wort „Altweibersommer“ bereitet dort niemandem Probleme; obwohl die Metereologen „Goldener Oktober“ vorziehen, das klinge erbaulicher. „Unbeständig auf hohem Niveau“ lautet die hintergründige Zukunftsprognose der Potsdamer, „an der Börse würde man sagen: Seitwärtsbewegung“. Ein fast poetisches Bild! Da ist das kunstgeübte Hinterbein auf jeden Fall gefragt.

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