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Letzter Gruß an Elias. Ein Plüschtier erinnert an den ermordeten Sechsjährigen. Silvio S. soll nicht bloß Elias, sondern auch den vierjährigen Mohamed ermordet haben.

© dpa

Vor dem Prozess im Fall Mohamed und Elias: Silvio S. und die Angst vor Übergriffen im Gefängnis

Am 14. Juni beginnt der Prozess gegen Silvio S., dem die Entführung und der Mord an dem vierjährigen Mohamed und dem sechsjährigen Elias vorgeworfen wird. Zu seiner eigenen Sicherheit sitzt er in einer Einzelzelle.

Er macht Hausarbeiten, alles, was so an Kleinkram anfällt. Das wollte er so, die Zuständigen in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg an der Havel haben ihn gefragt. Wahrscheinlich dient das seiner Lebensqualität. Die Arbeit lenkt ab vom monotonen Alltag. Aber er darf nur wenigen Menschen begegnen. Da haben sie ihn nicht gefragt, er hätte aber sicher zugestimmt. Denn es dient ganz sicher seiner Gesundheit. Oder, wie Maria Strauß, Pressesprecherin des Justizministeriums von Brandenburg, sagt: „Herr S. wird weitgehend von anderen Gefangenen getrennt. Er unterhält Kontakt nur zu ausgewählten Gefangenen, um ihn vor etwaigen Übergriffen Mitgefangener zu schützen.“

Silvio S. ist wegen Mordes angeklagt. Die Opfer: Mohamed, vier Jahre alt, Elias, sechs Jahre alt. Und wegen ihrer Entführung. Und wegen sexuellen Missbrauchs an Mohamed. So jemand muss geschützt werden.
Millionen Menschen kennen das Foto, mit dem nach ihm gefahndet wurde.

Sie sahen einen unscheinbaren Mann, Brille, Seitenscheitel, Bart, ein unauffälliger Typ auf einem Gehweg. In Kaltenborn bei Jüterborg nahm ihn die Polizei fest. Silvio S. wohnte dort. In Kürze werden Millionen Zuschauer aktuelle Bilder von Silvio S. sehen, aufgenommen in einem Gerichtssaal des Landgerichts Potsdam. Am 14. Juni beginnt dort der Prozess gegen den 32-Jährigen.
In Brandenburg hat er eine Einzelzelle, die Freistunde verbringt er allein im Hof. Neun Gefangene sind in Brandenburg wegen Kindsmord inhaftiert, 30 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Übergriffe auf Gefangene, die wegen solcher Taten eingesperrt sind, hat es in den vergangenen drei Jahren nicht gegeben. Es kann sich sehr schnell ändern. Alles eine Frage der passenden Gelegenheit.

"Kindermörder stehen im Gefängnis auf unterster Stufe"

In einem Café in Tegel sitzt ein Mann mit Drei-Tage-Bart und Bauchansatz. Stephan Schmidt (Name geändert) redet von der Hierarchie unter Gefangenen. Seine rechte Hand liegt flach in der Luft, wie ein Brett. „Hier“, sagt er, „ist die zweitunterste Stufe. Dort stehen Leute, die ein Kind missbraucht haben, das Kind aber nicht töteten.“ Die Hand sinkt fünf Zentimeter. „Hier ist die unterste Stufe. Mörder, die ein Kind missbraucht und getötet haben.“ Der linke Zeigefinger tippt auf die rechte Hand. „Hier“, sagt Schmidt, „steht Silvio S. Solche Leute sind permanent in Gefahr.“ Silvio S. ist nicht verurteilt, er gilt derzeit formal als unschuldig. „Aber solche Feinheiten“, sagt Schmidt, „interessieren im Knast nicht.“ Zumal Silvio S. gegenüber der Polizei die Ermordung der Kinder gestanden hatte.

Schmidt kann das alles beurteilen, er saß in der JVA Tegel, er saß in einem Gefängnis in Sachsen. In Sachsen hat er sie erlebt, diese Gefahr. Freistunde für alle, die Gefangenen schlenderten über den Hof. Urplötzlich stürmte eine Gruppe auf einen Mann zu und verprügelte ihn. Der Mann hatte ein Kind missbraucht und getötet. Vollzugsbeamte mussten ihn retten.
Silvio S. traf es im Gefängnishof von Moabit. Ein Angreifer schlug ihn von hinten mit der Faust. Zwei Beamte, die sich in der Nähe aufhielten, konnten den Angriff nicht verhindern. Silvio S. auf den Hof mit anderen Gefangenen zu lassen, kurz nach seiner Verhaftung? „Wie blöd muss man sein?“, sagt Schmidt. „Ist doch klar, dass dies gefährlich ist.“

Wenn das so klar ist, wie wird dann ein Kindermörder geschützt? „Bei Fällen, in denen die Taten öffentlichkeitswirksam waren oder sogar Bilder des Täters veröffentlicht wurden“, sagt Claudia Engfeld, Pressesprecherin der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, „besteht ein besonderer Augenmerk im Hinblick auf Schutzmaßnahmen.“ Eine Einzelfreistunde kann so eine Schutzmaßnahme sein.

Verurteilte Häftlinge müssen arbeiten, das ist Vorschrift. Aber bei einer „konkreten Gefährdung ist davon auszugehen, dass kein Arbeitseinsatz erfolgt“, sagt Engfeld. „Eine ständige persönliche Beaufsichtigung in einem Betrieb“ ist nach ihrer Aussage schlicht nicht möglich.

Ein Wärter sagt: "Wirklich schützen kann man niemand"

Das ist die offizielle Sicht. In einem Restaurant in Tegel stochert Karsten Schröder (Name geändert) mit der Gabel in seinem Gulasch und sagt: „Klar kann sich jemand dauernd einschließen lassen. Aber das macht kaum einer.“ Er jedenfalls hat das noch nie erlebt.

Und er arbeitet seit vielen Jahren in der JVA Tegel. „Irgendwann geht einer doch arbeiten. Dann wird es gefährlich. Dann kann man ihn gut abfangen.“ Oder man warte auf den Zeitpunkt, wenn die Zellentüren noch nicht geschlossen sind. „Da wird der diensthabende Beamte abgelenkt, und die anderen gehen zum Opfer. Wirklich schützen kann man niemanden.“ Für Berlins Anstalten sagt Engfeld: „Bei über 4000 Gefangenen (...) sind solche Vorfälle eher selten. Dies ist (...) frühzeitigen Interventionen sowie dem konsequenten Reagieren geschuldet.“

„Natürlich“, erklärt Jörg Behrendt (Name geändert), „achten Beamte in jedem Gefängnis auf Sicherheit. Trotzdem: Eine Gefahr besteht immer.“ Behrendt hat mit Kindermördern zu tun und mit Gefangenen, die für diese Menschen eine Bedrohung darstellen. Er muss sie beobachten, nach Möglichkeit therapieren. Das ist sein Job. Der 44-Jährige ist Psychologe in einer Justizvollzugsanstalt, sein Büro steht in einer sozialtherapeutischen Station. Behrendt hat einen Scheitel wie mit dem Lineal gezogen, er strahlt etwas Strenges aus. Der Psychologe hat verschiedene Anstalten kennengelernt, „es ist überall gleich“, sagt er. „Solche Leute haben es in jeder Anstalt schwer.“

Kindermörder kommen nach Jahren auf eine sozialtherapeutische Station

Sozialtherapeutische Stationen vermitteln zumindest ein Gefühl erhöhter Sicherheit. Viele Kindermörder sind dort untergebracht, neben anderen Inhaftierten. Das hängt mit Privilegien zusammen. Hier sind die Zellentüren länger offen als in anderen Stationen, die Insassen können sich freier bewegen. Doch wer Gewalt anwendet, fliegt raus. Dieser Gedanke schreckt erfolgreich ab. „Aber bis ein Kindermörder in so eine Station kommt, ist er im normalen Vollzug“, sagt Behrendt. Teilweise zehn Jahre lang. „Und das sind keine lustigen Jahre.“

Denn Kindermörder sind ja auch eine Art Blitzableiter. Sie stehen stellvertretend für andere Täter, sie bekommen die Rache ab, die eigentlich für andere gedacht ist. Behrendt erlebt es immer wieder in seinem Büro. „Viele Gefangene waren als Kind selber Opfer von Gewalt, oft auch sexueller. Sie übertragen ihre Rache an den Tätern, die sie verletzt haben, auf den Kindermörder in der Zelle nebenan.“

Und dann spielt noch eine krude Logik eine Rolle. Wer auf der zweittiefsten Stufe steht, ist froh, dass er einen hat, der noch tiefer steht. Und Gefangene, die einen Kindermörder abgrundtief ablehnen, fühlen sich generell auf der richtigen Seite. Sie suchen die Seilschaft der Moralisten. In seinem Büro hört Behrendt oft den gedehnten Satz: „Sie haben doch auch Kinder...“ Er wird nicht vollendet, der Satz, aber die Botschaft ist klar. „Die wollen mich in Mithaftung nehmen“, sagt Behrendt. Er hat dann Mühe, sie davon abzubringen. Im Restaurant spielt Schröder, der Vollzugsbeamte, mit seinem Glas. „Wir haben für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Das ist oberstes Gebot“, sagt er. „Und darauf achten wir sehr genau.“ Andererseits haben Vollzugsbeamte auch Kinder. Und manchmal kollidiert dann die Gefühlslage des Wärters X mit der des Vaters X.

„Man kann nicht ausschließen, dass ein paar der Beamte auf ihre Weise reagieren“, sagt Schröder. Auf ihre Weise heißt: „Man durchsucht dann einfach eine Zelle sehr gründlich und achtet penibel darauf, ob man etwas findet.“ Oder die Zelle wird etwas verzögert geöffnet. Einzelfälle sind das, sagt Schröder, „sicher nicht die Regel“. Ein paar Sekunden starrt er auf sein Glas. Dann ein Satz, leise gesprochen, aber eindringlich genug. „Wir sind auch nur Menschen.“

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