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Berlin: Vor den Augen der Welt

Wie die Flucht des Polizisten Conrad Schumann zur Ikone der Teilung wurde

19 Jahre ist er alt, als er springt. Der erste Grenzposten, der nach dem 13. August flieht. Die Mauer an der Bernauer Straße besteht nur aus einer niedrigen Rolle Stacheldraht. Es ist der 15. August 1961, als Bereitschaftspolizist Conrad Schumann gegen 16 Uhr anläuft. Als er über dem Stacheldraht schwebt, drücken die Fotografen Peter Leibing und Klaus Lehnartz auf die Auslöser ihrer Kameras. Drei Menschen, deren Lebenswege sich in einem historischen Moment kreuzten. Das Foto des ersten Mauerspringers wurde zur Ikone des Kalten Krieges.

Schumann, Leibing und Lehnartz waren für kurze Zeit ein Team. Schumann hatte deutliche Zeichen gegeben, dass er fliehen wollte. Die Fotografen richteten daraufhin ihre Kameras auf die übrigen Grenzpatrouillen, die Anweisung hatten, sich nicht für die Feindpropaganda ablichten zu lassen. Die Patrouillen drehten sich also um und entfernten sich langsam von der Grenze. Damit hatte Schumann freie Bahn. Auf der anderen Seite wartete schon ein Polizeiwagen, der Schumann gleich aufs Präsidium brachte. Die beiden Fotografen gaben ihre Filme bei der „Bild“ ab. Anschließend trennten sich ihre Wege. Schumann ging nach Bayern, arbeitete als Krankenpfleger, Weinkellergehilfe und bei Audi am Band. Leibing stieg zum stellvertretenden Fotochef des Hamburger Abendblatts auf, Lehnartz dokumentierte weiter das Leben in Berlin und anderen Metropolen. Schumann nahm sich 1998 mit 56 Jahren das Leben, seine Fotografen starben 2008, im Abstand weniger Monate.

Lehnartz durfte das Foto von Schumann seit 1981 nicht mehr unter seinem Namen verbreiten. 2002 sagte er dem Tagesspiegel, das Negativ seiner Aufnahme sei verschollen. 1961 sei es üblich gewesen, Filmrollen bei den Zeitungen abzugeben und alles Weitere der Redaktion zu überlassen. Aktuelle Fotos seien damals ohne Autorenvermerk abgedruckt worden. Leibing erntete seitdem allein den Ruhm, der wichtigste Mauerfotograf zu sein. Finanziell brachte ihm das Foto allerdings nichts ein. Die Rechte lagen bei der Agentur, für die er damals arbeitete.

In den ersten Jahren im Westen musste Schumann befürchten, von der Stasi verschleppt zu werden. In der bayerischen Kleinstadt Krumbach wurde er von der Familie Kreutzer aufgenommen. Als ein Familienmitglied zu einer Tagung nach Leipzig reiste, hielt ihn die Stasi zwei Tage lang als „Fluchthelfer“ fest. Schumann versuchte, ein normales Leben zu führen. Schon 1962 heiratete er, 1963 kaufte er sich einen VW-Käfer. Einer Zeitung sagte er: „Nun habe ich es geschafft.“

Von seiner Familie in Sachsen bleibt er getrennt. Erst 1976 darf sein Vater in den Westen reisen, um ihn zu besuchen. Nachbarn beschreiben ihn als ruhigen, eher verschlossenen Typen. Gerne wandert er durch die Natur. Schumann hatte vor seinem Polizeidienst als Schäfer gearbeitet. Aus dem Vereinsleben seiner neuen Heimat hält er sich heraus.

1987 lädt US-Präsident Ronald Reagan Schumann ein, an der 750-Jahrfeier Berlins teilzunehmen. Schumann sitzt mit seiner Frau auf der Ehrentribüne, als Reagan am Brandenburger Tor seinen berühmten Satz sagt: „Mr. Gorbachev, tear down this wall.“ Im gleichen Jahr erlässt die DDR eine Generalamnestie. Schumann, der aus Sicht der DDR nicht nur republik- , sondern auch fahnenflüchtig geworden war, wird ausdrücklich davon ausgenommen.

Bereut habe er seinen Mauersprung nie, erklärte Schumann immer wieder. Als die Mauer fiel, arbeitete er bei Audi am Band. Aus aller Welt riefen ihn Journalisten an, um zu hören, was er davon hielt. Richtig frei fühlte sich Schumann offenbar auch nicht im wiedervereinigten Deutschland. Thomas Loy

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