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Es geht nicht immer rau zu in dieser Stadt - manchmal wird man unter der Berliner Weltzeituhr auch einfach umarmt.

© dpa

Vor der Wahl: Wie tickt Berlin?

Diese Stadt wurde herumgeschubst und geteilt. Dennoch war es früher leichter, sie zu verstehen. Heute sind drei von vier Berlinern Zugezogene – und die benehmen sich wie Alteingesessene.

Es ist nie falsch, eine Untersuchung Berlins mit einem Fontane-Zitat einzuleiten. Also etwa jenem hier: „Je berlinischer man ist, je mehr schimpft man und spöttelt man auf Berlin. Dass dem so ist, liegt nun aber nicht bloß an dem Schimpfer und Spötter, es liegt leider wirklich auch an dem Gegenstande, also an unsrem guten Berlin selbst“, schrieb er in einem Brief an Georg Friedlaender.

Später steht da auch noch, der Berliner sei ein egoistischer, enger Kleinstädter, aber das wollen wir jetzt mal einen Moment ausklammern und uns dem Schimpfer und Spötter zuwenden, als den wir uns den Berliner in der Tat vorstellen müssen. Denn es ist ja richtig, dass das vielstimmige Herummeckern an der Stadt erst die Stadt selbst mit ihrem vielstimmigen Charakter überhaupt hervorbringt. Wären alle Einwohner auf einmal so glücklich mit Berlin wie, beispielsweise, die Münchener mit München, würde Berlin zu existieren aufhören.

GIBT ES BERLIN ÜBERHAUPT?

Ja, Berlin existiert. Das unterscheidet es von rein virtuellen Ansiedlungen wie Bielefeld. Aber seine Existenz ist nicht homogen, hat nichts von der inneren Harmonie der Pariser Arrondissements oder vom Zusammenhalt des kleinen gallischen Dorfs. Es wurde über die Jahrhunderte immer wieder herumgeschubst, lebte als Residenz, als preußische Hauptstadt, Vier-Sektoren-Stadt, insuläre Subventionsmetropole, Hauptstadt der DDR.

Und im Gegensatz zu den meisten anderen Hauptstädten der Welt wird es von den Bewohnern des Staates drum herum seit vielen Jahrzehnten nicht mehr geliebt, eine Wendung, die irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg eintrat. West-Berlin wurde zum Kostgänger der Bundesrepublik, dessen Etat zur Hälfte von schwäbischen Handwerkern und Hamburger Pfeffersäcken und allen anderen Leistungsträgern in „Westdeutschland“ aufgebracht wurde, Ost-Berlin war ein Schaufenster des real existierenden Sozialismus, das die wenigen Bananen und Apfelsinen und Kaffeepackungen an sich zog, über die die DDR verfügte – auch keine Empfehlung für die Zeit nach der Wiedervereinigung. Deren Lebenslüge bestand ja in der Erwartung, dass es den Deutschen nun wie Schuppen von den Augen fallen werde: Habemus Berlinum! Von wegen: Um zu verstehen, was da seit dem Hauptstadtbeschluss wirklich passiert ist, muss man nur die Entwicklung der Immobilienpreise in Bonn und Berlin seit jener Zeit vergleichen. Der Berliner ist sehr leicht geneigt, sich – um in seiner Sprache zu sprechen – verarscht zu fühlen. Und manchmal hat er damit sogar recht.

WIE IST DER BERLINER?

Es war leichter, Berlin zu verstehen, als es noch den typischen Berliner gab, den weltbekannten, Kohlroulade essenden, Schultheiss-Bier trinkenden Herz-mit- Schnauze-Menschen, der seinen Stammbaum notfalls bis zu den wendischen Sumpfbewohnern der Doppelstadt Berlin-Cölln zurückverfolgen konnte. Gegenwärtig ist nur noch jeder vierte Berliner hier auch geboren – die anderen sind die Kreuzberger Schwaben und die Neuköllner Türken und alle anderen, die auf den Ruf der Stadt hereingefallen sind.

Jung-Einwanderer fühlen sich in diesem Karussell rasch als Alteingesessene, und sie benehmen sich deshalb auch so, erwarten, dass der Kiez, den sie eben erst bezogen haben, ab sofort jegliche Veränderung einstellt – sonst tröten sie die Gentrifizierungs-Vuvuzela. Und gerade bei den Bewohnern ohne jeglichen Migrationshintergrund spielt die Berliner Gretchenfrage immer noch eine große Rolle: Ost oder West? Man beschnuppert sich, erkennt sich, ringt mit seinen Vorurteilen. Generell bedeutet diese Entwicklung, dass die Partikularinteressen immer stärker werden; Fontanes egoistischer, enger Kleinstädter ist wieder stark im Kommen.

WOHER KOMMT DAS MIT DER HAUPTSTADT?

Diese Bürde trägt Berlin schon über 300 Jahre. 1701 ließ sich Friedrich I. zum König in Preußen krönen, und bei diesem Vorgang wurde Berlin als Hauptstadt dieses Reichs festgeschrieben. Die Krönung allerdings fand in Königsberg statt, und schon dies mag der Ausgangspunkt einer Identitätskrise gewesen sein, die sich bis heute in immer neuen Varianten erhalten hat. Ganz nebenbei waren damals rund 30 Prozent der Einwohner französische Hugenotten, die ersten echten Migrahis.

Später kamen protestantische Österreicher dazu – und nach der Reichsgründung Menschen aus allen anderen Ecken der Welt. Erste Zweifel an der Hauptstadttauglichkeit dieser Metropole kamen eigentlich erst auf, als sie ins Insel-Koma verfiel, an den Subventionstropf angeschlossen wurde und dem kleinen Bonn zumindest auf Zeit Platz machen musste. Und auch das mit der „Hauptstadt der DDR“ stimmte zwar faktisch, wurde aber viel zu oft herausposaunt, um richtig herzlich wahr sein zu können.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was nach der Wahl aus Berlin wird.

WELCHES VERHÄLTNIS HAT BERLIN ZU SEINER VERGANGENHEIT?

Aus diesen zwei Vergangenheiten der Stadt lässt sich schwer eine einheitliche zusammenbauen. „Es war nicht alles schlecht“ ist der Kernsatz der trotzigen Selbstbehauptung (Ost), der nur selten auf selbstkritische West-Reflexion trifft – man geht im Westen einfach mal davon aus, dass so weit alles gut war seit den großen Zeiten von Ernst Reuter. Beiden Seiten ist gemeinsam, dass sie Symbole ihrer Vergangenheit wie den Palast der Republik oder den Flughafen Tempelhof bis zum Platzen mit Bedeutung aufladen; auch das nicht endende Gerangel um den Wiederaufbau des Schlosses lässt sich ja als westlicher Versuch der Revision eines DDR-Verbrechens lesen. Schließlich gibt es noch die etwas weiter zurückliegende, sehr viel dunklere Vergangenheit, mit der der Berliner gern abschließen würde – zu diesem Zweck hat er Mahnmal um Mahnmal errichtet, ohne dem Ziel wesentlich näher gekommen zu sein.

WAS MUSS DER NEULING ÜBER DIE BERLINER WISSEN?

Der aktuell in freier Wildbahn vorkommende Mainstream-Berliner trägt wesentliche Merkmale seines Stadtoberhaupts. Es ist zwar meist wesentlich schlechter angezogen als jener, zeigt aber die gleiche, zwischen herzlicher Jovialität und abrupter Pampigkeit schwankende Haltung, die im Dialekt mit „Mir kann keener“ umschrieben wird. Zu dieser trotzigen Selbstgewissheit gehört die Angewohnheit, durch die Abwesenheit von Missfallensäußerungen höchstmögliches Lob auszudrücken; nicht wenige, vor allem süddeutsche Zuwanderer haben diesen Mangel an offener Herzenswärme schon so persönlich genommen, dass sie auf dem Absatz kehrtmachten.

WAS WIRD NACH DER WAHL AUS DER STADT?

Nur wenige Persönlichkeiten von draußen fühlen sich berufen, an der politischen Gestaltung der Stadt mitzuwirken. Deshalb ist der Rollentausch je nach Wahlergebnis das obwaltende Prinzip. Nehmen wir an, dass die Grünen künftig an der Macht beteiligt sind, dann läuft dies auf eine gewisse Erhöhung des landespolitischen Lärmpegels hinaus, auf eine demonstrative Konfliktbetonung zugunsten der eigenen Klientel. Man wird sich ein wenig mehr streiten, über Windräder, Tempolimits und neue Autobahnen, aber die üblichen Probleme von Hundekot über Graffiti und Autobrände bis zur Arbeitslosigkeit mit der gleichen Nonchalance verwalten wie die Vorgänger. Berlin bleibt doch Berlin – dieser Kernsatz lässt sich als Segen oder Seufzer artikulieren. Und Klaus Wowereit würde anfügen: Das ist auch gut so.

Berlin in Zahlen

AUSDEHNUNG

Mit 892 Quadratkilometern ist Berlin das drittkleinste Bundesland – vor Hamburg und Bremen). Aber: 3,44 Millionen Einwohner bedeuten Rang 8 unter den Bundesländern.

AUSKOMMEN

Das verfügbare Jahreseinkommen je Einwohner liegt in Berlin bei 15 843 Euro. Das sind nur 83,5 Prozent des Bundesdurchschnitts.

AUSSTATTUNG

In Berlin gibt es 74 Krankenhäuser, 51 Bühnen, 170 Museen und 284 Kinos. 108 784 Hunde können sich auf 428 000 Straßenbäume verteilen.

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