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Berlin: Vor Gericht fühlen sich viele Opfer noch mal gedemütigt Der „Weiße Ring“ wirbt für besseren Umgang mit Menschen, denen Gewalt angetan wurde

Sechs Messerstiche hat Roger K. abbekommen.

Sechs Messerstiche hat Roger K. abbekommen. Vier Jahre ist das her, doch erholt hat sich der kräftige Mann von dem Angriff nur körperlich. Geblieben ist dem 43-Jährigen, den ein Messerstecher zum Verbrechensopfer gemacht hat, das Gefühl, erniedrigt worden zu sein.

Es war ausgerechnet der Richter, der Roger K. vermittelt hat, er sei selbst schuld an seinem Schicksal. So hat Roger K. die juristische Bewältigung einer Nacht erlebt, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Dabei hatte er bloß einem Freund geholfen. Geplant war ein Abend mit einem Kumpel, von Beruf Polizist, und Fußball im Fernsehen. Doch dann erschien ein mutmaßlicher Einbrecher auf dem Gelände des Mehrfamilienhauses – und die beiden Freunde wollten den Mann stellen. Der stach panisch auf seine Verfolger ein – zwei Schwerverletzte überlebten nur knapp. Und dann urteilt über die Gewalttat ein Gericht, das im Opfer – so wie es K. erlebt hat – nur den „Zeugen“ sieht.

Erniedrigung, Demütigung – solche Gefühle verbinden wohl alle Opfer von Gewalt. Nicht viele wollen oder können wie Roger K. öffentlich darüber reden – und sei es, um nicht immer Opfer zu bleiben. K. hat gelernt, dass es ihm hilft, über den Angriff zu sprechen. Und er hat erfahren, dass der „Weiße Ring“ Leute wie ihn braucht, um für besseren Opferschutz und einen sensibleren Umgang mit Opfern zu werben. 25 Geschichten von Gewaltopfern haben die Autoren Birgit von Derschau und Wolfgang Büscher in einem Buch mit dem Titel „Lebenslänglich“ veröffentlicht, das gestern vorgestellt worden ist. Rechne man zu den Verbrechen, zu den Vergewaltigungen oder bewaffneten Überfällen die Roheitsdelikte hinzu, so Helmut Rüster vom Weißen Ring, würden in jedem Jahr mehr als 700 000 Menschen in Deutschland Opfer von Straftaten gegen die körperliche und seelische Unversehrtheit erleiden.

Was diese Menschen dann vor Gericht erleben, sei für viele eine weitere Erniedrigung. Ob einer, der einem Freund hilft, selbst schuld ist, wenn er niedergestochen wird, passt schlecht in eine Zeit, in der Jugendliche im Suff über Rentner herfallen, Busfahrer verprügelt werden und regelmäßig über Zivilcourage debattiert wird. Nicht allein Richter beklagen, dass vor Gericht die Psyche des Täters auf mildernde Umstände hin untersucht wird, während Opfer sich selbst um die Wiederherstellung der seelischen Gesundheit kümmern müssen. Nicht nur konservative Politiker kritisieren die Täterfixiertheit der Justiz.

Polizeipräsident Dieter Glietsch erinnerte bei der Buchvorstellung daran, dass jede Polizeidirektion einen Opferschutzbeauftragten habe und die Zusammenarbeit mit dem Weißen Ring bis in die Abschnitte hinein gewährleistet ist. Doch anders als bei häuslicher Gewalt, so Glietsch, seien die Polizisten, die als Erste mit den Opfern zu tun haben, nicht verpflichtet, Verbrechensopfer und die Helfer vom Weißen Ring zusammenzubringen. Die Innenminister müssten eine Regelung finden, so Glietsch.

Birgit von Derschau, Wolfgang Büscher: Lebenslänglich. Gütersloher Verlagshaus 2008. 16,95 €

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