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Schweizer Viertel

© Kitty Kleist-Heinrich

Wärme aus der Pipeline: Die Hitze, die aus der Kälte kommt

Die ganze Stadt profitiert inzwischen von dem Wärmenetz, das einst in Ost und West getrennt errichtet wurde. Jedes dritte Gebäude wird aus der Ferne beheizt – durch Europas größtes Netz.

Kein Heizkessel im Keller, kein Schornstein auf dem Dach, und den Kaminkehrer gibt es nur noch als Glücksbringer im Bilderbuch: Wer sich’s im „Schweizer Viertel“ in Lichterfelde-West im geheizten Zimmer gemütlich macht oder den Warmwasserhahn aufdreht, hat die Quelle für diesen Komfort nicht im Haus – aber im Blick. Es ist das nur etwa einen Kilometer entfernte Heizkraftwerk Lichterfelde am Teltowkanal. Nach dem Prinzip der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) erzeugt der Energiekonzern Vattenfall dort zugleich Strom und Fernwärme und versorgt mit der Heizenergie auch die rund 630 Wohnungen und Einfamilienhäuser der neu gebauten Siedlung.

Ein gewaltiger Wasserkreislauf hält diesen Prozess in Gang: Das im Kraftwerk aufgeheizte Wasser wird mit bis zu 135 Grad zu den Häusern gepumpt. Dort gibt es seine Energie an den Heizwasserkreislauf und die Warmwasserversorgung der Gebäude ab. Das erfolgt an „Wärmetauschern“ im Keller: Ein kühlschrankgroßer Kessel wird vom heißen Wasser aus den Fernwärmerohren durchströmt. Zugleich fließt das Wasser des Gebäudes in vielfach gewundenen Leitungen durch und nimmt die Hitze des Kraftwerkswassers auf. Das strömt, abgekühlt bis auf 60 Grad, zurück zum Kraftwerk.

Schon seit den frühen 60ern Jahren wurde der Ausbau des Fernwärmenetz in beiden Teilen Berlins vorangetrieben. Zum Vorteil der hohen Energieausbeute kam der Sicherheitsbedarf West-Berlins. Man wollte energieunabhängig sein, baute folglich eigene Kraftwerke im Stadtgebiet und nutzte deren Abwärme. Ost- Berlin setzte dagegen auf Heizkraftwerke wegen der umfangreichen Kohlevorkommen der DDR. Inzwischen hat die Stadt einen Superlativ erreicht: Berlin liegt bei der Fernwärme im westeuropäischen Städtevergleich ganz vorn.

Wettlauf um Marktanteile

Mit der Hälfte der erzeugten Fernwärme wird zurzeit fast jeder dritte Berliner Haushalt geheizt: rund 615 000 Wohnungen in fast allen Plattenbausiedlungen, aber auch in Altbauvierteln von Friedrichshain bis Steglitz. Die andere Hälfte nutzen Verwaltungen, Handel und Industrie. Unter dem Strich werden 29 Prozent der Berliner Gebäude mit Fernwärme versorgt – Platz zwei zwischen Erdgas mit 37 und Heizöl mit 26 Prozent. Prominente Fernwärmekunden sind Berliner Dom und Museumsinsel, Fernsehturm, Friedrichstadtpalast, Potsdamer Platz, Zoo, Adlon, KaDeWe und der Amtssitz des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue. Laut Vattenfall kommen jährlich rund 500 Gebäude hinzu.

Doch kritische Stimmen warnen vor einem übermäßigen Ausbau. Denn Vattenfall hat mit 98 Prozent Marktanteil kaum Konkurrenz. Grüne und Verbraucherzentrale warnen, dass der Monopolist eines Tages die Preise diktieren könnte – zumal, falls Vattenfall in Lichtenberg ein neues Großkraftwerk baut, das mehr Wärme produziert als gebraucht wird.

Zurzeit ist der Wettlauf der Energielieferanten um Marktanteile härter denn je – vor allem zwischen Fernwärme und Gas. Der Gewinn des Schweizer Viertels, eines der größten Neubaugebiete im Westen Berlins, war deshalb für Vattenfall ein Grund zu feiern. Ende der 90er sicherten der Bauträger Gagfah und Vattenfall die Wärmelieferungen vertraglich ab. Dabei vereinbarten sie einen „sehr langfristigen“ Lieferzeitraum. Denn der Anschluss eines neuen Gebietes ist wegen des Rohrnetzes weit teurer als der Einbau dezentraler Gas- oder Ölthermen. Der Aufwand lohnt sich für den Investor erst langfristig – und setzt der Expansion des Fernwärmenetzes auch technische Grenzen: Die Kraftwerkswärme lohnt sich nur bei großen Mietshäusern und dauerhaft garantierter Abnahme.

Im Schweizer Viertel überwiegend positive Erfahrungen

Seit die ersten Häuser des Schweizer Viertels 2001 durch Fernwärme behaglich warm wurden, hat die Betreibergesellschaft der Siedlung überwiegend positive Erfahrungen gesammelt. Der Techniker Axel Stage von der Betreibergesellschaft des Schweizer Viertels ist sieben Jahre nach den ersten Anschlüssen zufrieden: „Pannenfrei, günstig, individuell regelbar wie eine Gastherme und platzsparend.“ Was ihm außerdem gefällt: „Diese Siedlung ist schornsteinfrei.“

Stattdessen hat das Heizkraftwerk Lichterfelde drei weithin sichtbare, 158 Meter hohe Schornsteine. Sie ragen in den Himmel wie ein Symbol für alle, die aus diesem südlichsten Berliner Vattenfall-Kraftwerk Wärme erhalten. Das sind neben den Bewohnern des Schweizer Viertels auch zehntausende Menschen in Lankwitz, Lichterfelde Ost und rund um die Schloßstraße. Zu jedem der insgesamt 18 Berliner Heizkraftwerke und sechs Heizwerke von Vattenfall gehört ein solcher Versorgungsbereich mit einem Radius von mehreren Kilometern. Das Netz des Heizkraftwerks Mitte erstreckt sich beispielsweise von der Charité über den Alexanderplatz bis zur Halbinsel Stralau. Die Bereiche sind miteinander verbunden.

Insgesamt ist das Berliner Netz 1348 Kilometer lang, die Stahlrohre haben Durchmesser von einem Meter bis zu 2,5 Zentimeter am Hausanschluss, sie liegen etwa 90 Zentimeter unter der Erde und sind dick isoliert, so dass der Wärmeverlust laut Vattenfall unter sechs Prozent liegt.

Die Temperatur, mit der das Wasser die Kraftwerke verlässt, richtet sich nach dem Wetter. Die Menge aber bleibt konstant: rund 326 000 Kubikmeter. Wer sich dieses Volumen bildlich vorstellen will, kann sich einen Eisklotz von der Größe der Philharmonie denken.

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