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© picture-alliance / dpa/dpaweb

Berlin: Wagners Welt

Treffpunkt Paris Bar: Der König des Boulevards stellt sein neues Buch über sich und Deutschland vor

In der Paris Bar, wo sonst. Endlich hatte Franz Josef Wagner das berüchtigte Restaurant einmal ganz für sich, den ganzen Abend lang, was ihm sonst nur tief in der Nacht gelingen mag, wenn er, der Stammgast, die anderen Leute aussitzt. Über dem üppigen Buffet schwebte der Rauch von unzähligen Zigaretten und anderen brennenden Objekten, der ehemalige Regierungssprecher Thomas Steg addierte ein wenig Pfeifenaroma, aktuelle und ehemalige Größen des deutschen Boulevard-Journalismus bis rauf zu Springer-Vorstand Mathias Döpfner glitten durch den Nebel, tranken Rotwein, Weißwein, Bier; ganz am Ende wird es wohl ziemlich absturzselig zugegangen sein.

Ein Buch wurde vorgestellt, „Brief an Deutschland“, Wagners Abrechnung mit sich selbst und dem Land drumherum. „Das letzte Genie des Boulevards“ nennt ihn der Klappentext, das mag man so sehen, nur steht da auch der Satz „In einem Sound ohnegleichen“, und dieser Satz ist idiotisch. Gleich mehr.

Wagner, ehemaliger Chefredakteur, Schreibsöldner und Berater von nahezu allem, füllt gegenwärtig vor allem seine Sechs-Tage-Kolumne „Post von Wagner“ in der „Bild“-Zeitung. Darin mischen sich geniale Gedanken mit anderen, die sich so lesen, als seien sie mit dem Finger im Hals herbeigewürgt worden, nur Hass, Trauer oder glühende Liebe, „manches geht über die Tribüne“, wie Matthias Matussek, einer der Laudatoren, anmerkte, „vieles aber direkt ins Tor“.

Das Buch ist anders. Wagners Memoiren? Dafür ist es mit seinen 159 locker bedruckten Seiten zu kurz. Eine Lebensbilanz? Erinnerungen? Alles: Ein wildes Herumfingern an den empfindlichsten Stellen der Republik, Krieg und Vertreibung, die Trauer um Kennedy, RAF und Schleyer, Mauer und Mauerfall, Fußball und die Schland-Euphorie. Dazwischen Beruflich-Persönliches: Wie aus dem rothaarigen Kind Boris Becker mit Wagners Hilfe erst ein Halbgott und dann ein nervender C-Prominenter wurde, wie Pepe Boenisch starb, und wie Tom Cruise der „Bunten“ eine 90-Millionen- Klage schickte, weil ihn ein von Wagner frisch eingestellter, zu ehrgeiziger Reporter sehr fantasievoll zitiert hatte.

Die Cruise-Geschichte hat eine typische Wagner-Pointe: Als wenige Tage später ein Flugzeug mit Burda-Managern abstürzte und die Nachricht über die fünf Toten auch nach Hollywood drang, kam von dort ein weiteres Fax: „Ziehe Klage zurück, bin selbst Pilot.“ Immer sind Blut, Schweiß und Tränen im Spiel, mal real, mal metaphorisch, hier kehrt einer sein Herz aus und manchmal auch seinen Magen, schreibt Sätze wie: „Ich hatte mit siebzehn keine andere Wahl als abzuhauen, sieht man mal von Selbstmord ab.“

Aber gerade deshalb ist das mit dem „Sound“ so doof, weil es klingt, als habe da ein Lohnschreiber mal schnell auf Bukowski-Modus umgestellt. Nein, das hier ist Wagner selbst, jeder Satz der Welt abgerungen, das Zeug, das einen in der U-Bahn bis nach Tegel mitnimmt, obwohl man Friedrichstraße aussteigen wollte. Allein das Kunststück, den ersten Satz des Buchs – „Deutsche schlafen sicher“ – erst am Ende des zweiten Absatzes zu schreiben, lohnt das Lesen.

Der Autor selbst machte wenig Aufhebens von sich an diesem Abend, driftete freundlich somnambul durch sein Biotop. Freunde, Kollegen alter Zeiten, ein paar Kamerateams - die Paris Bar steckte seit langem einmal wieder voller Bedeutung. Bernd Matthies

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