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Berlin: Wahl der Gegensätze

Die Jüdische Gemeinde stimmt über ihr neues Parlament ab. Viele sorgen sich um die finanzielle Situation.

Was sie vom neuen Gemeindeparlament erwartet? Die 67-jährige Frau mit den perfekt geschminkten Lippen überlegt nicht lange: „Es soll sich um uns Rentner aus der ehemaligen Sowjetunion kümmern.“ Viele hätten ihr Leben lang gearbeitet, aber die Rente sei mager. Sie selbst habe 27 Jahre am Konservatorium in Moskau unterrichtet, seit zwanzig Jahren gebe sie in Berlin Klavierunterricht. Ihre Rente: 162 Euro. Denn Russland zahlt ihr nichts. Dass nun ausgerechnet die Jüdische Gemeinde ihren Mitarbeitern die Betriebsrente kürzen muss, weil sie über dem im öffentlichen Dienst Üblichen liegt, leuchtet ihr nicht ein. Sie hofft wie viele andere Gemeindemitglieder, dass der Senat der Gemeinde aus der Finanzkrise hilft.

Es ist Sonntagnachmittag, im jüdischen Gemeindezentrum in der Fasanenstraße ist viel los. Die Gemeinde, mit 10 500 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde in Deutschland, wählt turnusgemäß nach vier Jahren ein neues Parlament, das dann aus seinen Reihen einen neuen Vorstand bestimmt. 9300 Gemeindemitglieder sind stimmberechtigt. Bis 14 Uhr hatten ein Viertel ihre Stimme abgegeben. Familien mit kleinen Kindern kommen und gehen, ältere Gemeindemitglieder stützen sich auf einen Stock und mühen sich die Treppen zum Wahllokal hinauf. Man hört viel Russisch, 80 Prozent der Gemeindemitglieder sind in den vergangenen 20 Jahren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin gekommen.

Seit zwölf Jahren lebt auch die amerikanische Filmemacherin und Kinderbuchautorin Myriam Halberstam in Berlin. 2010 hat sie einen jüdischen Kinderbuchverlag gegründet, es ist der erste in Deutschland. Für sie ist es keine Frage, dass die Gemeinde ihre Finanzen in den Griff bekommen muss. „Man kann nicht Leckerbissen verteilen und bezahlen sollen es die anderen“, sagt sie. Allerdings wünscht sie sich mehr Transparenz. In den USA unterstütze man direkt eine bestimmte Synagogengemeinde und könne mehr mitbestimmen, was mit dem Geld passiere. Sie wünscht sich auch, dass mehr für die amerikanischen und israelischen Juden in der Stadt getan werde. „Warum nicht eine Synagoge mit amerikanischem Gottesdienst etablieren?“, fragt sie. „Einen Gottesdienst, der orthodox ist und doch mit einer Leichtigkeit verbunden, nicht so deutsch und streng?“

„Die Biografien und vor allem die Brüche in den Lebensläufen unserer Gemeindemitglieder sind so verschieden. Wie will man da Ruhe in die Gemeinde bringen?“, fragt Chajim Harald Grosser vom Verein „Child Survivors“. Die Männer und Frauen, die die Schoah als Kinder überlebt haben, treffen sich einmal im Monat im Gemeindehaus. Es sei nicht einfach gewesen, von der Gemeinde anerkannt zu werden, sagt Grosser. Als sich der Verein vor zehn Jahren vorstellte, habe ein Rabbiner als Erstes gefragt: „Seid ihr überhaupt Juden?“ Nach dem jüdischen Gesetz ist nur Jude, wer eine jüdische Mutter hat. Die Nazis ermordeten aber auch diejenigen, die einen jüdischen Vater hatten. „Und wir Kinder mussten uns fragen lassen, ob wir richtige Juden sind? Das war schon bitter“, sagt Grosser. Wegen der großen Heterogenität der Gemeinde sei es schwierig, einen gemeinsamen Kern zu finden.

Um die 21 Sitze im Gemeindeparlament bewerben sich 62 Kandidaten. Um das Amt des Gemeindevorsitzenden konkurrieren die 58-jährige Mirjam Marcus, der 36-jährige Sergey Lagodinsky und der 39-jährige Gideon Joffe. Marcus war in den vergangenen Jahren stellvertretende Gemeindevorsitzende und steht für die etablierte, deutschsprachige Gemeinde. Der Anwalt und Publizist Sergey Lagodinsky gehörte bisher zur Opposition im Gemeindeparlament und könnte ein Kompromisskandidat für Alteingesessene und für zugewanderte russischsprachige Mitglieder sein. Gideon Joffe, 39, bis vor kurzem Geschäftsführer der Treberhilfe, war von 2005 bis Ende 2007 Gemeindechef und gilt als Favorit der russischsprachigen Gemeindemitglieder.

Die Wahllokale wurden um 18 Uhr geschlossen. Bis zum späten Abend war noch kein Ergebnis absehbar.

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