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Die sieben Todsünden einer Stadt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Wahl und Papstbesuch: Die 7 Berliner Todsünden

Der Papst kommt, die Wahl auch. Höchste Zeit für einen Blick ins Sündenregister der Stadt. Ehrliche Buße und rasche Umkehr sind jederzeit möglich – aber nicht zu erwarten.

ZORN

Immer will Berlin Erster sein. Die definitive Schmach des vergangenen Jahrzehnts für die Metropole lag deshalb darin, dass der bahnbrechende sog. Wutbürger woanders erfunden wurde. Und dann auch noch in Stuttgart, jener schwäbischen Ansiedlung, die seit den siebziger Jahren als Kinderstube der gefürchteten Berliner Hausbesetzer gilt. Dennoch wird man annehmen dürfen, dass er erst in Berlin zu voller Brisanz heranreift, denn erst die finale Verschmelzung des in wendischen Sümpfen gereiften Urberliners mit dem authentisch schwäbischen Emporkömmling garantiert die volle Wirkung.

Bis dahin müssen wir uns damit zufriedengeben, dass die hiesigen Wutbürger-Azubis ihre Camps rund um den neuen Flughafen Schönefeld aufschlagen, wo sie in den vergangenen Monaten die Tatsache entdeckt haben, dass Flugzeuge ihre Starts und Landungen unter einer gewissen Geräuschentwicklung absolvieren. Seitdem werden immer neue, kurz vor dem Wohnsitz des jeweiligen Wortführers schroff abknickende Flugrouten verkündet, die dann prompt neue Massenproteste auslösen. Das Grundprinzip folgt der traditionellen Anrufung des Hl. St.Florian („Verschon mein Haus, flieg andre an“), denn auch der Berliner Wutbürger möchte sein Urlaubsdomizil in Fuerteventura ja nicht per Bahn ansteuern.

Bemerkenswert ist das Missverhältnis zwischen dem real existierenden Fluglärm in Wedding und Spandau und dem befürchteten am Müggelsee; würde heute ein Verantwortlicher das planen, was die Menschen rund um den Flughafen Tegel seit Jahrzehnten weitgehend gelassen ertragen, dann müsste er damit rechnen, von einer erbosten Menge geteert und gefedert sowie im Schäfersee ertränkt zu werden.

Das konstitutive Grundelement des berlinischen Zorns ist das andauernde Gefühl, „die da oben“ hätten es pfeilgerade auf einen selbst abgesehen – es ist die politische Variante der bekannten Zwangsvorstellung, die andere Supermarktkasse sei die schnellere und die jeweils andere Autokolonne auch viel zügiger unterwegs. Den kleinen Alltagszorn des Berliners verkörpert in reiner Form der hiesige Radfahrer. Als ewig verfolgte Unschuld ist er stets geneigt, unachtsame Autofahrer mit Flüchen und deren Autos mit Faustschlägen zu traktieren. Durch die Stadt ziehen sich längst imaginäre Traumpfade, die nur von Radlern erkannt und genutzt werden und sich jeder rechtlichen Ordnung entziehen.

Soeben scheitert das Bezirksamt Prenzlauer Berg mit dem Versuch, die Kastanienallee, ein Zentrum der Bewegung, wegen massiver Bauarbeiten für Radler zu sperren. Die nämlich fahren nach wie vor um alles herum und über alles drüber, was ihnen die Staatsmacht in den Weg räumt, getrieben nur von der unauslöschlichen Wahrheit, dass ihr Treiben klimaförderlich sei und deshalb größer als die profanen Regeln der Straßenverkehrsordnung. Wer aus dem Auto jemals in die Augen eines Berliner Radlers geschaut hat, der urplötzlich aus der falschen Richtung heranfegt, der ahnt, dass die Attacken gegen die Stuttgarter Bahnbauer nur Vorboten einer größeren, alles vernichtenden Wut sind.

Lesen Sie auf Seite 2, was die zweite Berliner Todsünde ist.

HOCHMUT

Immer will Berlin glamourös sein. Zwar ist allen Zuständigen bekannt, dass sich die Prominentendichte der Stadt zu jener von Paris, London oder Hollywood verhält wie Spülwasser zu Fischsuppe. Doch dieser Diagnose begegnet man nicht durch bescheidene Zurückhaltung, sondern durch den Versuch, die Prominenz durch Senkung des Anspruchsniveaus zu vermehren; man kennt das Prinzip aus der Berliner Schule, wo es durchaus üblich ist, Diktate auch bei mehreren Fehlern mit „sehr gut“ zu bewerten, um den daraus folgenden Durchschnitt später in der „Abendschau“ als Beleg erfolgreicher Schulpolitik vorweisen zu können.

So gehört es also zum Redaktionsalltag, dass etwa die Eröffnung eines drittklassigen Szene-Restaurants mit dem Versprechen eines sensationellen Promi-Aufgebots angekündigt wird. Ganz oben auf der Liste stehen dann Personen wie Gabi Decker oder Hans-Peter Wodarz, die überall dabei sind, wo man sie nicht gewaltsam aussperrt; die Anwesenheit des nur im Westen Berlins weltberühmten Figaros Udo Walz gilt schon als Indiz dafür, in der A-Kategorie angekommen zu sein. Besonders augenfällig tritt dieses Phänomen auf den vielfältig wuchernden Berliner Großveranstaltungen zutage, die die jeweils vorangegangene Oscar-Verleihung zu kopieren suchen.

Sie heißen „Bambi“ oder „Goldene Kamera“, sind komplett unverblümte Werbeveranstaltungen großer Verlage und fallen dadurch auf, dass die Plätze in der ersten Reihe für Veronica Ferres, Kim Fisher und Jimi Blue Ochsenknecht freigehalten werden. Höhere, internationale Prominente kommen nur dann, wenn ihnen vorher mindestens einer der Preise in die Hand versprochen wird – das haben diese Galas mit der Berlinale gemeinsam, deren Organisatoren alljährlich verzweifelt um Filme kämpfen, die später auch außerhalb des Festivals noch irgendjemand sehen will. In Kleinstmengen tänzeln dennoch große Stars über den roten Teppich, ein sicherer Vorbote dafür, dass sie später für ihr Lebenswerk oder doch wenigstens für ihr Engagement gegen den Klimawandel ausgezeichnet werden; den Weg zum Privatjet in Tegel legen sie dann auch demonstrativ mit dem Hybrid-Shuttle zurück.

Dieses grundsätzlich und rundherum tiefergelegte Niveau ist vermutlich auch der Grund dafür, dass Klaus Wowereit in der Stadt so unrealistisch positiv eingeschätzt wird. Er wirkt in seiner provozierenden Lässigkeit und Eleganz neben den übrigen Stadtpolitikern der Stadt wie Schneewittchen neben den sieben Zwergen – eine unrealistische Verengung des Blickwinkels, die übrigens auch schon Teile der SPD erfasst und ihm den Ruf des vierten Manns im Triumvirat eingebracht hat. Man möchte der Partei dann aber doch raten, eher bei drei Mächtigen zu verharren. Dieses Phänomen funktioniert übrigens in umgekehrter Richtung umgekehrt: Eine doch ganz passable Bundespolitikerin wie Renate Künast hat sich innerhalb weniger Monate des Berliner Wahlkampfs derart verzwergt, dass man für den Fall der absehbaren Wahlniederlage schon ihr komplettes Verschwinden befürchten muss.

Die dritte Todsünde der Berliner: Lesen Sie weiter.

WOLLUST

Immer will Berlin sexy sein. Den metaphorischen Hintern hochschieben und den Busen schnüren, damit sich die Bustouristen aus Tübingen so ungezogen fühlen wie im Pornokino, nur eben doch ganz brav und gesellschaftsdienlich. Doch irgendwie scheinen die Eingeborenen Wowereits Bonmot missverstanden zu haben, denn sie haben irgendwann nach der Wende angefangen, höchstpersönlich sexy sein zu wollen – und sind in der blanken Vulgarität gelandet.

Berlin ist vor allem längst die Weltmetropole verstörender Körpertattoos, deren Doofheit mit der nur locker herumdrapierten Kleidung eine explosive Mischung eingeht. Drachen und Adler, Stacheldraht und Totenkopf bedecken Bi- und Trizeps, das Arschgeweih ragt aus den Jeans heraus, und manchmal deuten auch inhaltsleere Krakeleien auf dem Unterarm darauf hin, dass der Betreffende offenbar eigenhändig versucht hat, sich szenegerecht zu verstümmeln.

Das ist nur das Offensichtliche, denn erst ein Rundblick im Freibad lässt das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar werden. Besonders peinlich, wenn die wachsende Wampe ein einst nur albernes Motiv ins totale Gaga zerrt, wenn der Verfall der Trägerperson aus der einst fein ziselierten indischen Gottheit eine runzlige alte Vettel macht. Seit sich sogar die Gattin des Bundespräsidenten mit einem Tattoo zeigt und mitteilt, sie fände die Form „cool“ und stehe dazu, sind alle Dämme gebrochen – man wird wohl argwöhnen dürfen, dass sich bereits der übernächste Berliner Bürgermeister oder spätestens der danach seinen Amtseid auf die Arschbacke tätowieren lässt. Vermutlich trägt er dazu auch eines jener Piercings, die ihren Träger wie einen Zuchtbullen aussehen lassen. Höchstes Ziel dieser Anstrengungen ist es, vom Türsteher in einen der notorischen Berliner Sündentempel eingelassen zu werden, einen von jenen, die in den Reiseführern für ihre „ungewöhnliche sexuelle Freizügigkeit“ gerühmt werden. Nach der Einnahme preisgünstiger Designerdrogen verschwimmen Wunsch und Realität dann auch auf eine Weise, dass die Nacht allemal als Erfolg verbucht werden kann.

Überhaupt lässt sich wohl sagen, dass die träge, oft geradezu jamaikanische Geisteshaltung vieler Berliner viel mit der Verbreitung sanfter Drogen zu tun hat – gerade Marihuana findet sich in Hand- und Jackentaschen in beunruhigender Häufung. Das Problem, dass Reporter vor einigen Jahren auf den Toiletten des Bundestages Kokainspuren gefunden haben, gilt indessen als gelöst: Dort wird seitdem häufiger geputzt. Drogenprävention auf Berliner Art.

Vermutlich hat auch der phänomenale Aufstieg der Piratenpartei mit diesem Phänomen zu tun. Es genügt offenbar durchaus, keine Ahnung und kein Programm zu haben, sofern eine Partei nur verspricht, für die Basisbedürfnisse einer ausreichend großen Wählergruppe zu kämpfen, in diesem Fall für: freies Internet, freie BVG und freies Kiffen. Über freies Tätowiertwerden sagen sie nichts. Ein Fehler, der sie die Regierungsbeteiligung kosten könnte.

Die vierte Berliner Todsünde: Lesen Sie weiter.

GEIZ

Immer will Berlin sparen. Geld ist keins vorhanden – Ergebnis der paradoxen Tatsache, dass es sich vermutlich um die einzige Hauptstadt der Welt handelt, deren wirtschaftliche Kenndaten unter dem Durchschnitt des sie umgebenden Landes liegen. Das hat drei Gründe: Einer ist die historische Insellage mit nachfolgender Vollbremsung durch den alten Geldgeber. Der zweite ist die ebenso unerwartete wie frustrierende Erkenntnis, dass die anderen Bundesländer kein Interesse an einer florierenden Hauptstadt haben, auf die sie stolz sein könnten. Und der dritte ist vermutlich Berlin selbst mit seinen Entscheidungsträgern, die unentwegt auf die falschen Knöpfe zu drücken scheinen. Im westlichen Ausland interessiert sich außer großen Immobilieninvestoren niemand für die Stadt, und der Osten hat sich mit Wien als Drehscheibe längst glänzend arrangiert.

Nur langsam lichtet sich der Nebel über der einfachen Erkenntnis, dass eine Weltstadt schlecht davon leben kann, dass ihre Bewohner sich gegenseitig die Haare schneiden. Auch die Hoffnung auf sog. grüne Zukunftstechnologien ist rasch Vergangenheit, wenn die entsprechenden Produkte am Ende doch billiger und besser in China hergestellt werden können. Eine Hauptstadt, die ein riesiges Areal in ihrer Mitte wie den ehemaligen Flughafen Tempelhof nur als Öko-Streichelzoo denken kann, hat ein gravierendes Problem. Sie ist arm, aber keinesfalls sexy. Und vor allem: geizig, aber nicht geil.

Vermutlich ist der öffentliche Dienst der Stadt rein quantitativ im Vergleich noch immer überbesetzt. Doch nirgendwo werden die, auf die es ankommt, so schlecht bezahlt. Niemand zweifelt daran, dass sich die Probleme Berlins nur durch konsequent geplante und umgesetzte Bildungsanstrengungen lösen lassen. Aber die Lehrer werden nicht mehr verbeamtet und haben massive Reallohnverluste hinnehmen müssen – die Folge sind rapide alternde, demotivierte und überlastete Kollegien.

Die verantwortlichen Politiker haben sich, wie es scheint, darauf verständigt, die drohende Lücke gelassen abzuwarten: Berlin sei sooo toll, heißt es, da würden die abgewanderten Lehrer schon aus Heimweh zurückkommen. Aha. Für Erzieher, Sozialarbeiter, Pflegeberufe und andere Schlüsselsparten gilt Ähnliches. Und dies alles betrifft nicht allein den öffentlichen Sektor: Die Gewerkschaften nennen Berlin auf recht überzeugender Datenbasis die deutsche Niedriglohnmetropole. Oben ist es nicht besser: Jeder Berliner Beschäftigte kann sich finanziell verbessern, wenn er die Stadt verlässt.

Es ist wohl kein Zufall, dass die Deutsche Bahn ihren Großversuch zur Kostenreduktion gerade hier gestartet hat. Das S-Bahn-Desaster zeigt, wie man ein Unternehmen nach allen Regeln der Kunst auspresst, auf Schlankheit, Rentabilität und Funktionsunfähigkeit trimmt – und dass die anschließenden Aufräumarbeiten teurer kommen als alles, was je gespart wurde. Es könnte sein, dass eine solche Erfahrung Berlin insgesamt noch bevorsteht.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Todsünde Nummer fünf.

VÖLLEREI

Immer will Berlin den Superlativ. Es hatte mal die schrecklichste Mauer, es hat heute den schrecklichsten Potsdamer Platz und feiert seinen permanenten Ausnahmezustand in Veranstaltungen, die zu den schrecklichsten der Welt zählen. Sie finden in der Regel vor dem Brandenburger Tor statt, das sich, wäre es denn zu Gefühlsregungen fähig, die Mauer manches Mal zurückgewünscht haben dürfte. Noch hat kein Psychologe schlüssig nachweisen können, weshalb die Berliner eine solch gewaltige Zuneigung zur Zusammenrottung mit eingebetteter Nahrungsaufnahme in der Öffentlichkeit pflegen, und wie diese Neigung auch die Immunschranken von Touristen und Migranten überwindet. (Und weshalb es dabei noch keine Toten gegeben hat.)

Diese Neigung kennt mehrere Wahrzeichen: Ein in der Tendenz eher rückläufiges ist die Chinapfanne, ein Überbleibsel von Maos „Großem Sprung nach vorn“, der die chinesische Bevölkerung einst um Millionen dezimierte. Ihr Auftauchen auf Berliner Massenveranstaltungen darf als Rache maoistischer Zwergparteien (KPD/ML/USW) an einer Gesellschaft verstanden werden, die ihre politischen Ideen nicht mochte und nun hinterrücks und zur Musik von Jürgen Drews und den Puhdys dem langsamen Hirntod preisgegeben wird.

Aktuell bedeutsamer ist die Neigung verschiedener Bevölkerungsgruppen, sich den Tiergarten zur Selbstverköstigung untertan zu machen. Wie immer in Berlin wird die Lage durch die Tendenz der Verantwortlichen verschärft, die Lösung grundsätzlich drei Nummern kleiner als das Problem zu wählen. Denn das erste Gebot der Grillgruppen lautet: „Du sollst den Abfall einfach irgendwohin schmeißen“. Der Montag steht dann im Zeichen der BSR, die ihre Arbeit mit der erschöpften Zuwendung eines enttäuschten Beichtvaters absolviert. Denn sie weiß: Wenn etwas nicht von Jahr zu Jahr größer und anstrengender wird, dann ist es nicht in Berlin.

Das gilt erst recht für den immer weiter anschwellenden Ruhm der Currywurst. Das Seltsamste an der schlichten Idee der Hertha Heuwer war einst nicht die banale Rezeptur, sondern die unverfrorene Art, mit der sie die Berliner Menschheit später in schwachsinnige Lagerkämpfe gestürzt hat. Mit Darm oder ohne, bei Konnopke oder Kudamm 195 – es gibt ganz sicher kein nutzloseres Streitthema angesichts der elementaren Tatsache, dass es um nichts als Wurst und Tunke geht.

Seine höchste Stufe erreicht der Kult um die Curry in der Gründung des Currywurstmuseums in Mitte. Der Eintrittspreis liegt nur geringfügig über dem des Pergamonmuseums, womit wenigstens die Hierarchie der beiden bedeutendsten Berliner Sehenswürdigkeiten geklärt wäre. Im Preis ist übrigens nach anfänglicher Totalverweigerung nun auch eine Kostprobe des einzigen Ausstellungsgegenstands enthalten – und zwar in einen Pappbecher geschlabbert. Damit ist die Verschmelzung des kulinarischen Nichts mit dem ästhetischen Garnichts auf einem Höhepunkt angelangt, der selbst auf dem Niveau der Berliner Todsünden nur selten erreicht wird.

Die sechste Berliner Todsünde, auf der nächsten Seite.

NEID

Immer will Berlin gerecht sein. Oder sogar sozial gerecht, wie es heute heißt. Gemeint ist mit diesem ganz und gar unumstrittenen Begriff in der Regel, dass der Staat dem Bürger sämtliche Lebensrisiken abnimmt, das vorzeitige Versterben aus Gesundheitsgründen eventuell mal ausgenommen. Die DDR hat mit diesem Prinzip bis vor ihrem Zusammenbruch, wie man bisweilen hört, gute Erfahrungen gemacht, es gab Arbeit ohne Unterlass und billigen, wenn auch bröselnden Wohnraum für jeden, der nicht gerade auf so exotischen Privilegien wie einer abweichenden politischen Meinung beharrte.

Nach dem überraschenden Durchbruch des sozial ungerechteren politischen Systems ergeben sich Spannungen, das ist normal. Keiner, der es nicht packt, will andere sehen, die es gepackt haben, schon gar nicht vor seiner Haustür. Man wird vermuten dürfen, dass ein großer Teil der Autobrandstiftungen auf eine solche Überlegung zurückgeht. Der Neid ist das gelbe Gift der Berliner Gesellschaft, denn es gibt immer jemanden, der mehr verdient und mehr bedeutet und das teurere Auto oder bessere Fahrrad fährt – und sich damit zur Zielscheibe macht.

Zeit für das Stichwort „Gentrifizierung“. Bestimmte, einst verfallene Gegenden wie die Mitte von Prenzlauer Berg kommen in Mode, werden saniert, es ziehen begüterte Mieter hinzu, die höhere Mieten bezahlen und lieber Latte macchiato trinken, anstatt sich mit Futschis abzuschießen. Fraglos ein Problem für die Politik – aber selten wird es so verkrampft diskutiert wie in Berlin. Jene, die mal eine Bruchbude am Kollwitzplatz billig geschossen haben, leiten daraus das Recht ab, dort nun auch ihren weit entfernten Lebensabend zu erreichen, und zwar unter unveränderten Bedingungen, mag auch über ihnen die Decke zusammenbrechen und vor ihnen die Fassade bröckeln.

Ähnlich liegen die Dinge in Kreuzberg und Neukölln, wo immer noch Nachwuchs-Blockwarte sorgsam und gegebenenfalls gewalttätig darauf achten, dass keine schwäbischen Zuzügler, keine avantgardistischen Künstler und keine begeisterten Köche den Kiez attraktiver machen. Am Ende müsste der antifaschistische Autonome erzberliner Prägung womöglich seinen Bezirk verlassen. Und das kann er sich genauso wenig vorstellen wie einen Job bei McKinsey.

Das Problem – so viel müssen wir unseren Politikern lassen – ist unlösbar. Denn selbst wenn es möglich wäre, im Wege des Neubaus verfallene Altbauhäuser errichten zu lassen, wäre dies im Ergebnis vermutlich teurer als übliche Neubauten. Man mag sich kaum vorstellen, was passiert wäre, wenn die Nachwende-Prognosen über die bevorstehende gewaltige Blüte der Metropole Berlin eingetroffen wären: Die Kreuzberger Anti-Gentrifizierer würden vermutlich längst in Beeskow wohnen oder in Oranienburg. Und von dort würde gewaltiger Neid herüberwehen zu jenen, die sich die Wohnungen am Kollwitzplatz oder in der Kastanienallee noch leisten können. So gesehen ist Berlin sogar in einer günstigen Situation.

Die siebte Berliner Todsünde.

TRÄGHEIT

Immer will Berlin geliebt werden. Aber wofür? Die Stadt mag gewinnende Eigenschaften haben, Gäste kommen von allen Ecken und Enden der Welt und scheinen sich für die durchschnittlich 2,3 Tage ihres Aufenthalts wohlzufühlen. Aber für alle, die länger bleiben wollen, gilt das gesprochene Wort des Regierenden Bürgermeisters: Wem es hier nicht passe, der müsse ja hier nicht wohnen. Aus dieser Haltung haben sich die Eingeborenen und Zugezogenen einen Umkehrschluss zurechtgebogen: Scheißegal, wie die Stadt aussieht. Jene, die man Bürger im Wortsinn gar nicht nennen möchte, wohnen sich die Stadt träge zurecht und erdulden sie bestenfalls – wenn sie nicht gar zur allgemeinen Verluderung beitragen.

Es ist kein Wunder, dass sich diese Haltung vor allem in den öffentlichen Verkehrsmitteln niederschlägt. Wer anderen im Gedränge mit der Bierflasche vor der Nase herumfuchtelt und sie dem Leichenbouquet kalter Döner und welker Schlaffpappenpizza aussetzt, der verfährt ja genau nach diesem Prinzip des „Wem’s nicht passt, der kann ja gehen“. Auf diesem Nährboden gedeihen die berlinspezifischen Irrsinnigkeiten wie die ewig zerkratzten Bahnfenster oder die Filzstift-Krakeleien, die unmittelbar nach dem Abziehen der Putztrupps wieder aufgetragen und gegebenenfalls täglich erneuert werden. Wer nach Verantwortlichen oder doch wenigstens Zuständigen sucht, der landet im besten Falle bei jemandem, der ihm erläutert, das sei nun mal der Lifestyle der Stadt, da könne man nichts machen. Erwächst der Stadt ein Problem, kann man es mühevoll zu lösen versuchen – oder für „cool“ erklären, das ist billiger.

Der Berliner hat sich drin eingerichtet. Seine Rüstung gegen die Zumutungen des Alltags besteht in der Allzweckabwehr: „Wofür zahl ick denn Steuern?“ – auch wenn er selbst allenfalls die Mehrwertsteuer für Sixpack und Chips aus eigener Tasche zahlt. Bürgersinn, wie man ihn sich vorstellt, hat da keinen Platz; er tritt bestenfalls als massenhaft artikulierter Eigennutz in Erscheinung, wie bei den Fluglärm-Demos. Dass mal jemand die Pflege des öffentlichen Raums um ihn herum selbst in die Hand nähme, darf als extreme Ausnahme gelten. Denn er muss damit rechnen, dass ihm die in solchen Fällen unerbittlich präzise Bürokratie den Spaß rasch wieder verdirbt. Irgendein Paragraf steht immer im Weg.

Für alle, die deshalb wenigstens ein schlechtes Gewissen plagt, haben kluge Gesellschaftsstrategen die Charity-Gala erfunden, die in Berlin zu besonderer Blüte gereift ist. Nach entschlossenem Feiern und Fotografiertwerden kommt am Ende angeblich immer irgendwas für irgendeinen guten Zweck zusammen. Der Ablasshandel funktioniert, das Gewissen ist beruhigt.

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