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Berlin: Waltraut Reiber (Geb. 1919)

Alle 70-Jährigen der DDR dürfen in den Westen, nur Waltraut nicht.

Zwei flotte Fliegeroffiziere treten an ihren Tisch in einem Café am Zoo. Waltraut und eine Freundin wollen noch tanzen gehen, da kommen sie nicht ungelegen. Nur ihre Uniformen, diese zur Schau getragene Rechthaberei, die Gewissheit, dass die Herren bei Gelegenheit ihre Dominanz ausspielen werden. Waltraut sind Uniformen suspekt, aber die Herren zeigen sich galant und lassen nicht locker.

Und so wird ein Sturzkampfbomberpilot Waltrauts erste intime Beziehung. Er hat feste Absichten, Waltraut eher nicht. Kurt Lau, so heißt er, stellt sich ihren Eltern vor, nimmt sie mit zu seinen begüterten Verwandten, macht ihr Geschenke und dann den entscheidenden Fehler. Als Offiziersfrau müsse sie schon ein wenig auf ihn Rücksicht nehmen, sagt er. Hinsichtlich der Kleidung (viel zu modisch), der Fingernägel (viel zu lackiert) und ihrer Haltung (viel zu eigensinnig). Bei Waltraut schrillen sämtliche Alarmglocken. Sie hat andere Pläne, als ihm die Uniformknöpfe anzunähen.

Eine Schauspielkarriere soll es sein. An ihrer Schönheit gibt es keine Zweifel, Besonders die Augen entfalten bei Bedarf hypnotische Wirkung.

Der Krieg beginnt und Bomberpiloten müssen an die Front. Als Kurt seinen ersten Urlaub bekommt, erklärt Waltraut die Beziehung für beendet. Ein schwerer Schlag sicherlich für den Piloten. Und für Waltrauts Mutter. Sie macht ihr schwere Vorwürfe. Das weitere Schicksal von Kurt Lau ist unbekannt.

Im Luftschutzbunker lernt sie einen Mann kennen, der ganz anders ist. Erich Brück, 15 Jahre älter, hat Frau und Kinder, aber die sind evakuiert, und so steht einer Beziehung nichts im Weg. Die Angst, es könne sie „heute oder morgen treffen“, eine dieser Fliegerbomben, habe sie leichtsinnig werden lassen, schreibt Waltraud später in ihren Lebenserinnerungen. Erich Brück hat Geld und Beziehungen, um dem Wehrdienst zu entgehen. Das ermöglicht dem Paar ein komfortables Leben. Es sind sogar Reisen nach Mergentheim und Berchtesgaden möglich. Waltraut wird zweimal schwanger und lässt zweimal abtreiben. Erich Brück ist zwar ein guter Liebhaber, aber auch rasend eifersüchtig und cholerisch.

Nach dem Krieg bezieht das Paar eine gemeinsame Wohnung, doch das Experiment wird abgebrochen. Waltraut zieht zu ihrer Mutter zurück und widmet sich nun vorrangig ihrer politischen und beruflichen Vervollkommung.

Sie wird Sekretärin bei der „Deutschen Konzert- und Gastspieldirektion“. Vielen Künstlern gilt sie bald als wichtige Instanz auf dem Weg zu den begehrten Engagements. Ein Vokalist aus West-Berlin freundet sich mit ihr an. Die West-Berliner Künstler sind in der DDR sehr beliebt, das missfällt allerdings den Kulturstrategen der Partei, deshalb ergeht die Weisung, mehr DDR-Künstler einzusetzen.

Waltraut versteht das. Die Beziehung zum Vokalisten hat ihren Zenit ohnehin überschritten.

Sie hat nun öfter in der CSSR zu tun. Dort gibt es auch viele Künstler, die gerne in der DDR auftreten möchten und glauben, „die Bekanntschaft mit mir in dieser Richtung nutzen zu können“, doch Waltraut versichert, „dass es mir bis ans Ende meines Berufslebens gelang, derartige Beziehungen in korrekte Bahnen zu lenken.“

Sie arbeitet zwischenzeitlich im „Büro der Berliner Festtage“, dorthin hat sie sich selbst versetzt. Die Arbeit besteht darin, 14 Tage im Jahr mit allerlei Kulturveranstaltungen zu füllen, das wiederum füllt aber nicht das gesamte Arbeitsjahr, und so „gab es im Laufe des Jahres auch Freiräume für Unterhaltung, Spaß und Geselligkeit“. Man geht dazu über, „Berichte, Konzeptionen und Pläne“ im Schrebergarten von Waltrauts Mutter zu besprechen, einer „blühenden Erholungsstätte“. Es wird Bohnenkaffee und Cognac gereicht.

Waltraut hat auch Ehrgeiz und möchte durch politisches Studium ihrem Dasein einen tieferen Sinn geben. Den Lehrgang für Kulturfunktionäre in Leipzig schließt sie mit „sehr gut“ ab. Nach weiteren Fortbildungen ist Waltraut „staatlich geprüfter Kulturpolitiker“. Sie wird Parteisekretärin und kokettiert damit, dass manche Künstler sie für die eigentliche Direktorin der Gastspieldirektion halten.

Der Mauerbau 1961 ist ein Einschnitt für die Familie: Karlheinz, Waltrauts jüngerer Bruder, lebt in West-Berlin. Und wer hat die Mauer gebaut? Ulbricht natürlich, aber ein bisschen ja auch Waltraut, die überzeugte SED-Kandidatin. Es kommt zu einem heftigen Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter.

Waltraut ist nicht unglücklich wegen der Mauer. Erst 1989, als die Partei ihr verbietet, in den Westen zu reisen, zur Taufe ihrer Nichte, kommt Unmut auf. Schließlich ist sie schon 70 und mehrfach ausgezeichnet. Alle 70-Jährigen der DDR dürfen in den Westen, nur Waltraut nicht. Sie arbeitet immer noch in ihrer geliebten Dienststelle.

Dass Partei und Staat langsam ihrer Selbstauflösung entgegenstreben, nimmt Waltraut zum Anlass, sich ins Privatleben zurückzuziehen. Das Gute an der Wende ist, dass die Mauer fällt. Alles andere empfindet Waltraut als Kotau vorm Kapitalismus. Und Kotaus sind gar nicht ihre Art.

Aber jetzt nicht einigeln, mit verhärmter Miene den alten Zeiten hinterhertrauern. Waltraut macht sich schick, geht aus, empfängt Besucher. Für die Herren gibt es Bier, für die Damen einen Piccolo. Wer mag, greift zu den Schokolinsen mit Pfefferminzgeschmack.

Nie spricht sie über den Tod. Niemals. Sie lebt und plant und ist immer guter Dinge. Bis zuletzt, als der Schlag sie trifft. Thomas Loy

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