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Berlin: Wanzen fürs Fest

Berlin ist abgeriegelt, niemand darf ausreisen. Das Eintrittsgeld soll in der Stadt bleiben. Von Tobias O. Meißner

Konrad und Kevin – ein Wessi, ein Ossi – sind befreundet und pleite. Ihr Plan, die arme Hauptstadt mit einer Berlin-Maut (sie nennen sie Baut) zu Geld und sich selbst zu Ruhm zu verhelfen, ging nicht auf. Denn ein anderer war schon auf die Idee gekommen. Doch das ist unwichtig geworden, denn beide haben sich frisch verliebt: Konrad in eine Kaffeehaus-Serviererin, die ihn und sein müffelndes Weihnachtsmannkostüm, das er kurz zuvor für seinen Nebenjob im KaDeWe getragen hat, ignoriert. Und Kevin in eine hübsche Araberin, die er bei einer Sightseeing-Tour kennenlernte. Deren Vater, ein Ölscheich, hat die Freunde nach Ar Rayyan in Katar eingeladen, das kein Geld, dafür aber Kultur und Ideen benötige. In Tempelhof wartete bereits der Privatjet des Scheichs auf die Freunde und hob mit ihnen ab ...

Der Traum überm Schneeweiß der Wolken dauerte genau sieben Minuten.

Kevin und Konrad sahen sich schon an einer palmenbestandenen Oase sitzen und vielfarbige Cocktails schlürfen, während rings um sie her Elmira, Naima, Munya, Rayya, Salma und Sahara ihre paradiesisch verruchten Schleiertänze aufführten und im Hintergrund die Heiligen Drei Könige huldvoll auf ihren Dromedaren über die künstlich bewässerten Golfplätze ritten. Konrad deklamierte wie Marc Anton: „Freunde! Scheiche! Wüstensöhne!“ Kevin beobachtete Elmiras kreisenden Bauchnabel. Dann jedoch wurde der Jet „Chalifa bin Raschid“ von zwei Scharping-Abfangjägern eingeholt, zur Umkehr gezwungen und zum Flughafen Tempelhof zurückeskortiert.

„Es tut mir tausendfach leid, Eure Eminenz“, katzbuckelte ein leitender Angestellter der Flughafenbehörde, als der Scheich und seine sonnenbebrillten Leibwächter sich in morgenländischer Aufgebraustheit leiblich zu empören trachteten, „selbstverständlich dürfen Sie Berlin verlassen, wann immer Sie wollen, Sie und ihr ganzer Tross – nur ist uns eben zu Ohren gekommen, dass Sie zwei Berlinbürger an Bord haben, und Berliner dürfen nicht mehr ausreisen! Die Kontrolle aller Linienflieger klappt vorzüglich, aber Ihr Jet ist uns peinlicherweise beinahe durchgeschlüpft.“

„Nicht mehr ausreisen?“ Kevin kam das vage bekannt vor. Da er zehn Jahre älter war als Konrad, hatte er die DDR noch ziemlich bewusst mitbekommen.

„Weihnachtliches Senatsdekret“, erläuterte der Angestellte. „Touristen dürfen rein, wenn sie die Baut zahlen, aber kein Berliner darf mehr raus. Das Geld soll hierbleiben, indem Berliner am Weihnachtsferienverreisen gehindert werden.“

„Aber … aber … aber wir waren gerade im Begriff, die kulturellen Kissingers von Katar zu werden!“, protestierte Kevin. „Da hätten wir doch eine Menge Schotter zurückführen können nach Berlin, viel mehr, als die Baut jemals bringen wird!“

Es hatte keinen Sinn, ihm hörte schon niemand mehr zu. Der Scheich war sauer und kehrte mit seinen Leibwächtern wehenden Kopftuches zum Rollfeld zurück, seine Töchter rissen Kevin die ganzen Berlin-Bildbände aus den Händen und rannten hinterher. Kevin und Konrad wurden durch sämtliche Absperrungen zurückkomplimentiert, bis sie sich auf dem Platz der Luftbrücke wiederfanden, weihnachtlich von einem Stern überstrahlt, aber komplett ohne Schnee in eher sommerlichem Grünbraun.

Die Baut. Das hatten sie bei der ganzen Begeisterung über die schönen Töchter des Scheichs vollkommen vergessen.

„Ich habe Durst“, nörgelte Konrad. „Ich habe kein Pils bekommen, weil ich mich unbedingt in diesem Trendcafé aufhalten musste, ich bekam keine Latte, weil ich dann hastig von dort losmusste, und im Flugzeug wollte ich mir gerade eine Schweppes greifen, als plötzlich die Bomber auftauchten. Jetzt stehen wir hier beide blöd in billigen Anzügen in Tempelhof, und Edith Clever muss ich auch wieder Bescheid geben, dass ich am Dienstag doch kommen kann.“

Von der Hungerharke aus war es nicht weit zur Kreuzberger Bergmannstraße, etwa zehn Geh-Minuten. Dort fanden die beiden ein Café, wo es alles gab, Latte, Bier und Schweppes, und Konrad, der ja immer noch Kevins in der Kastanienallee lässig hingeblätterten Fünfhunderter übrig hatte, spendierte ihnen alles drei in beliebiger Reihenfolge. Zwischendrin rief Konrad die Clever an. „Blockade?!, Blockade?!“ schrie sie nur schrill.

„Wir müssen nachdenken“, murmelte Kevin in seinen Bierschaum. „Irgendetwas stimmt hier nicht. Wir saßen nebeneinander in der Pizzeria Multikulti. Karlsruhe, Wowiboys Aussetzer, Stoibers Problembär: die Laune war mies, aber nicht ohne Hoffnung. Du warst mit Lisa zusammen, ich mit Wendy. Du weißt noch: Wendy, deren Namen wir so irre fanden, wegen der Wende?“

„Ich erinnere mich.“

„Dann fängst du plötzlich an mit der Baut-Idee. Nur eine Idee. Hinter uns stürmen drei Männer aus der Pizzeria. Kurz darauf ist Berlin abgeriegelt, wie in deiner Idee, aber nicht von uns, sondern von anderen Kerlen in komischen Uniformen. Aber wir vergessen das wieder. Wir gehen schlafen, und am nächsten Tag bist du plötzlich, als hätte ein deutscher Gegenwartsdramatiker die Kontrolle über dich übernommen, rasend in eine Cafébedienung verliebt, und kurz darauf bereit, wegen sechs hüftwackelnder Scheichstöchter alles stehen und liegen zu lassen. Ich auch. Lisa, Wendy: abgehakt. Mensch, Junge: Sind wir wahnsinnig geworden oder was? Berlin ist abgeriegelt, und wir machen uns gar keinen Kopp und fliegen in die Wüste?“

„Wo haben die unsere Idee her? Und was haben die mit uns gemacht?“, fragte sich nun auch Konrad.

Kevin ging wieder in Denkerpose. „Für mich ist die Sache sonnenklar. Die drei Typen hinter uns in der Pizzeria haben uns was auf die Pizza gestreut, weißt du noch, als wir uns beide umgekuckt haben nach der kleinen Süßen in dem Wichtigmantel? Irgendein halluzinogenes Vergesslichkeitszeugs haben sie uns da draufgepulvert, auf meine Mista und deine Tonno. Die waren also schon länger auf uns angesetzt. Und du hast deine BautIdee bestimmt auch schon länger mit dir herumgetragen, oder?“

„’ne Woche oder so. Bis es spruchfähig war. Ich denke alle meine Ideen gut durch, bevor ich sie dir erzähle.“

Wenn das mal nur so wäre, seufzte Kevin in Gedanken, an das Berliner Oktoberfest, den Karneval der Barbaren, die Marzahner Weinverkostung, die Karaoke-Parade, den Lulatsch-Bungee und die Chaostage Chöpenick zurückdenkend. „Okay. Also wie sind die an deine Idee rangekommen?“

„Ich hab niemandem davon erzählt, außer dir …“ Konrad sprang plötzlich auf, bezahlte und rannte los. Kevin konnte ihm kaum folgen. Mehringdamm in die U-Bahn. Dann nach Hause.

„Werden wir verfolgt oder was ist los?“, fragte Kevin, sich argwöhnisch umblickend. Jeder zweite Berliner sah verdächtig aus, das war eine der Eigenschaften dieser Stadt. „Nein. Ich muss nach Hause, was checken.“

Sie erreichten ihre kleine Straße. Konrad stürmte in seine Wohnung. Dort lag sie, die Tüte mit dem verschwitzten KaDeWe-Weihnachtsmannkostüm. Konrad griff sich die Mütze und fingerte sie innen ab. „Mir kam das gleich komisch vor“, murmelte Konrad. „Normalerweise haben die Zipfel oben einen weißen Bommel, sonst sieht der Weihnachtsmann ja eher wie ein Gartenzwerg aus.“ Dann zeigte er Kevin, was er gefunden hatte. Zwischen den beiden Filzlagen, aus denen die Mütze genäht war, befand sich ein feines Glasfibergeflecht. Flexible Platinen. Cyber-Hardware vom Feinsten.

„Die Gedanken sämtlicher Weihnachtsmänner Berlins werden abgehört“, stellte Konrad tonlos fest.

Auch Kevin war ganz bleich geworden. „Wer hat die Macht, so etwas durchzuziehen? Und das Personal, die belauschten Ideen tatsächlich in die Wirklichkeit umzusetzen und die ganzen alten Grenzposten wieder zu aktivieren, um die Stadt abzusperren?“

„Hier steht es.“ Konrad zeigte auf die drei Buchstaben, die in unverhohlener Arroganz neben der Hauptplatine eingenäht waren: BVG.

„Jetzt wird mir so manches klar“, ächzte Kevin. „Ich hab mich schon immer gefragt, warum die Berliner Verkehrsbetriebe sich BVG abkürzen und nicht BVB. Das G steht wahrscheinlich für Geheimdienst oder so was.“

„Jetzt wird auch klar, warum die alle paar Monate die Fahrpreise anheben können. Sie regieren in Wirklichkeit diese Stadt. Wowi ist nichts weiter als ein Grüßaugust für ausländische Devisenbringer. Deshalb kann er auch gleichzeitig Kultursenator sein. Spielt alles keine Rolle mehr.“

„Weißt du, was wir jetzt unbedingt brauchen?“, fragte Kevin seinen Freund. Seine Augen glänzten fiebrig.

„Nein. Was?“

„Eine neue Luftbrücke! Die Weihnachtszeit ist dafür wie geschaffen. Der Weihnachtsmann mit seinem Rentierschlitten wirft Care-Pakete über der Stadt ab. Und dann … und dann: eine Revolution der Weihnachtsmänner! Alle abgehörten Heinzelmännchen Berlins schließen sich zusammen zu einem großen Weihnachtssternmarsch auf das Rote Rathaus, um mit eiserner Rute zu kehren und die Stadt den knochigen Fingern der Karnevalisten zu entwinden!“

„Kevin, ich glaube, die Wirkung der Pizza-Mista-Droge ist bei dir noch nicht ganz abgeklungen. Oder es ist doch schon zu kalt für Anzüge ohne Mäntel. Warum gehen wir nicht erst mal zu Lisa und Wendy rüber und beratschlagen, was wir tatsächlich tun können?“

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