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Berlin: Wartesaal West

Theodor Heuss nannte sie eine „menschliche Sturmflut“ – die Flüchtlinge aus Ost-Berlin. Um sie unterzubringen, wurde vor fünfzig Jahren das Notaufnahmelager Marienfelde eingerichtet

Von Werner van Bebber

Wer in den Westen wollte, musste warten. Stunden-, tage-, wochenlang warteten die Flüchtlinge aus der DDR im Notaufnahmelager Marienfelde: auf Essen, auf Hilfe bei der Arbeitssuche, auf eine Wohnung, auf den Flug über die deutsch-deutsche Staatsgrenze und vor allem: auf ihre Anerkennung als Flüchtling. Als Bundespräsident Theodor Heuss das Lager in Marienfelde am 14. April 1953 eröffnete, sprach er von einer „menschlichen Sturmflut“. Die musste aufgefangen und kanalisiert werden. Dafür wurde in der Marienfelder Allee 66-80 ein Lager gebaut. Hier musste durch, wer als DDR-Flüchtling anerkannt werden wollte.

Ganz 50er Jahre sind die Häuser dort: drei Stockwerke, Rauputz und rechte Winkel. Jetzt leben dort Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Als Deutschland noch aus zwei Teilen bestand, ereignete sich dort 1,3 Millionen Mal „eine persönliche Stunde null". So nennt es einer, der 1959 die DDR über Marienfelde verlassen hat. Die „Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde" mitten in der kleinen Siedlung aus Flüchtlingsunterkünften zeigt, was die werdenden Westdeutschen als erstes sahen: Doppelstockbetten, zwölf oder vierzehn Personen in einem Zimmer, Essen vom Blechteller, Waschmaschinen – Infrastruktur für 2000 Personen. Und Vorschriften. „Um 22 Uhr muß in den Wohnräumen das elektrische Licht ausgeschaltet werden und überall unbedingte Ruhe herrschen“, stand in der Lagerordnung.

Heute flitzen deutschrussische Kinder auf Inlineskates über die Asphaltwege, auf denen früher die Flüchtlinge Schlange standen. In der Erinnerungsstätte hängen schwarzweiße Fotos, die Menschen mit großen Koffern und angespannten Gesichtern zeigen. Und die Warnhinweise von früher: Vorsicht bei Gesprächen (Spitzelgefahr), Vorsicht bei Einladungen (Menschenraub). Man war hilfsbereit, aber auch bürokratisch: Die Beamten hatten ihre Sprechzeiten und an die hielten sie sich. Ordnung musste sein. Das erzählen die Menschen, die über Marienfelde in den Westen kamen. Daran erinnert auch der Wäschekorb voller Stempel, der in der Erinnerungsstätte steht. Wer am Montag seinen Stempel nicht hatte, musste sich am Dienstag wieder anstellen. Zum ärztlichen Untersuchungsdienst, zum fürsorgerischen Dienst, wo es die Essensmarken gab, Kleider und Kinderwagen, zur polizeilichen Anmeldung. Zwischendurch warteten die Alliierten in ihren Büros, um mit dem Flüchtling über die DDR zu sprechen. Dann folgten Vorprüfungen. Dazu gehörten auch Gespräche mit dem Bundesnachrichtendienst und das Warten in der „Terminstelle“ des Aufnahmeverfahrens. Im Gesetz stand, dass Flüchtlinge für die Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik glaubhaft machen müssten, dass sie die DDR „wegen einer drohenden Gefahr für Leib und Leben, für die persönliche Freiheit oder aus sonstigen zwingenden Gründen“ verlassen hatten.

Die Aussicht auf diese Informationen brachte noch eine andere Fraktion auf den Plan: die Staatssicherheit. Als Flüchtlinge mischten sie sich unter die Ausreisewilligen, fragten sie aus und berichteten an Ost-Berlin. Auch Beamte gehörten zu den IM. „Widerlich“, findet das Harald Fiss, der letzte Leiter des Lagers und jetzige Vorsitzende des Vereins Erinnerungsstätte Notaufnahmelager. Doch auch die IM gehören zu diesem Ort. Weil er ein Ort des Endes und des Anfangs gewesen ist. Marienfelde steht für 1,3 Millionen Wendepunkte.

Für den Gedenkstättenleiter ist an diesem Ort der Blick in zwei Richtungen möglich: auf die DDR als ein Staat gewordenes Motiv zur Flucht und auf die Bundesrepublik als Projektionsfläche großer Hoffnungen und Erwartungen. Das soll erhalten bleiben. Mitarbeiter der Gedenkstätte haben deshalb Materialien für Schüler-Projekttage aufbereitet. Denn Marienfelde mag karg und ärmlich wirken – es bleibt ein Konzentrat der Nachkriegsgeschichte.

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