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Flüchtlinge warten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales. Im Gedränge kann es schnell zu gefährlichen Situationen kommen.

© Kay Nietfeld/dpa

Warteschlangen am Lageso: Panikforscher: „In Sekunden kommt es zur Katastrophe“

Links Gitter, rechts Gitter – und das über Stunden. Ein Gespräch mit dem Panikforscher Michael Schreckenberg über Schlangen am Lageso. Der Forscher hatte auch die Loveparade-Katastrophe in Duisburg analysiert.

Die Lage vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) an der Turmstraße 21 in Moabit ist seit Wochen dramatisch. Schon in den frühen Morgenstunden spielten sich lebensgefährliche Szenen vor dem Amt ab: Massenhaft haben Flüchtlinge die Absperrungen überrannt, wenn die Behörde um sechs Uhr öffnete, um die oft tagelange Wartezeit bei der Erstregistrierung zu verkürzen. Teils fielen Wartegitter um, stürzten Menschen, verhedderten sich in den Gerüsten, wurden verletzt. Das berichten der Flüchtlingsrat und Initiativen wie „Moabit hilft“, es ist zu sehen in einer ZDF-Reportage. Es gab auch schon Schlägereien.

Entlastung soll es ab Mittwoch geben

Die Flüchtlinge sind so angespannt, weil jeder jeden Tag mit Tausenden, die ebenfalls anstehen, konkurriert. So wurden allein am 5. Oktober 3790 Flüchtlinge gezählt. Von den 500 Neuankömmlingen unter ihnen schaffen es nur 350 Menschen, überhaupt an eine Wartemarke zu kommen. Die meisten Leute müssen sich über Tage immer wieder neu anstellen, bis sie sich endlich beim Sachbearbeiter registrieren lassen können.

Das Lageso tut, was es kann, gerade wurde die Anzahl der Sicherheitskräfte aufgestockt, die Wartenden werden nach Anliegen kanalisiert, das Gelände wird früher geöffnet. Doch die Menschen stehen weiter dicht an dicht. Entlastung wird erhofft, wenn die neue Erstregistrierung in der früheren Landesbank (LBB) in Wilmersdorf das Lageso ablöst. Dies soll am 15. Oktober der Fall sein. Die Flüchtlinge sollen dann von Wartezelten vorm Lageso in Shuttlebussen zur früheren Landesbank gebracht werden – vor jenem Gebäude gibt es nämlich keinen Platz für tausende Wartende.

Der Physiker Michael Schreckenberg hat auch die Loveparade-Katastrophe in Duisburg aufgearbeitet.
Der Physiker Michael Schreckenberg hat auch die Loveparade-Katastrophe in Duisburg aufgearbeitet.

© promo

Herr Schreckenberg, Sie haben Menschenansammlungen erforscht. Kennen Sie solche Bilder wie die vor dem Lageso?
Nein, so etwas ist mir neu. In Deutschland haben wir ja noch keine Erfahrungen mit Warteschlangen, bei denen Menschen nach immer wieder neuem Anstellen auch eine Woche nach dem Auftakt noch nicht am Ziel des Begehrens sind. Alle haben nach entbehrungsreicher Flucht gemeinsam ein Ziel, das räumlich nur eingeschränkt erreichbar ist. Es sollte auf jeden Fall versucht werden, lokale Dichten mit bis sechs, sieben oder sogar mehr Personen auf einem Quadratmeter zu vermeiden. Es kann in so einer Situation ganz schnell, in Sekunden, zur Katastrophe kommen.

Erhebliches Risiko einer tödlichen Panik

Alle drängen, alle schieben, weil sie Sorge haben, wieder nicht ranzukommen.
Ja, das ist ja gar kein böser Wille, die Menschen haben ja keine andere Wahl. Wenn einer hinter mir drückt, gebe ich den Druck automatisch an meinen Vordermann weiter. Wenn dann einer stürzt, kann es zwei Szenarien geben: entweder, die anderen fallen auf Gestürzte drauf, dann können die am Boden Liegenden ersticken, weil sie wegen des Drucks von oben nicht mehr atmen können. Oder es laufen Menschen über die Person rüber, sie treten ihr auf den Kopf, auf die Gliedmaßen, auf den Körper. Wie man in den Fernsehbildern aus Berlin sieht, verkeilen sich die Menschen da teils auch in den Gittern. Und stellen Sie sich vor, in Mekka sind mal mehr als 100 Menschen gestorben, nur weil sich einer kurz bückte, um etwas aufzuheben, und die Masse dahinter nachschob.

Nun ist Moabit nicht Mekka. Aber wie könnte die Stadt Berlin das riskante Gedränge vor dem Lageso entschärfen?
Wichtig wäre es, die Wartenden in kleine Gruppen einzuteilen, beispielsweise in einer Größe von 20 bis 30 Personen. Zwischen diesen Gruppen müsste es mindestens 1,20 Meter Platz und Luft geben. So könnten Menschen bei zu viel Druck in Freiräume ausweichen, es entsteht viel weniger Drucklast. Sicherheitskräfte oder Polizisten können die Gruppen trennen. Sie sollten dann allerdings nicht gerade martialisch gekleidet sein.

Informationen sind wichtig: Wie lange dauert es noch?

Was raten Sie, um eine psychologische Stresssituation zu bewältigen?
In die Situation vor dem Lageso kann man sich schwer reinversetzen. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie fahren auf der Straße in einen Stau hinein. Dann sind Sie genervt, vor allem dann, wenn Sie nicht wissen, wie lange der Stau Sie ausbremst. Entspannter ist es, wenn Sie sich darauf einstellen können, wie lange ihre Fahrt unterbrochen wird, beispielsweise 20 Minuten. Bei den Flüchtlingen sind es Tage bis Wochen der Warterei, sie können aber ihre Lage überhaupt nicht einschätzen. Deswegen wäre es wichtig, dass die Menschen in so einer Schlange über den Fortgang tagesaktuell informiert werden.

Vielleicht mit einfacher Symbolik wie der roten Ampel und einer Wartezeit-Uhr, die nach unten zählt: Halt, jetzt stehen bleiben. Grün – nach einer Stunde geht es weiter. Die Menschen wähnen sich nach der strapaziösen Flucht am Ziel ihrer Reise und landen in völliger Ungewissheit. Deswegen brauchen sie während des Wartens Infos auf Schildern oder durch persönliche Ansprache auf Arabisch oder in Englisch, wann in etwa die Nummer drankommt. Das würde deeskalieren. Man könnte auch vonseiten des Amtes so etwas dazuschreiben wie: Wir tun unser Bestes, aber wegen der vielen Menschen kommen wir einfach nicht schneller hinterher.
Absperrgitter links und rechts sind offenbar wegen des enormen Andrangs nicht zu vermeiden. In der eigenen Intimsphäre wird jeder unangenehm bedrängt. Wie könnte man aber Freiheiten geben, wenn etwa jemand auf Toilette muss?
Dann wird in der Praxis der Warteplatz verloren sein. Es sei denn, ein Ordner oder ein Mitwartender hält ihn frei. Wichtig ist generell, dass man in Menschenmassen möglichst einen Außenplatz einnimmt, um im Notfall in Freiräume flüchten zu können. Wenn es droht, brisant zu werden, dann sollten Sie bitte möglichst auch seitlich aus der Gefahrenlage laufen, dann kommt man schneller durch.

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