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Berlin: Warum Randale gut ist für die Gesellschaft

Berliner Sozialforscher vergleichen die Ereignisse des 1. Mai mit Ritualen rivalisierender Stämme - die Botschaft ans Publikum spielt die geringste Rolle

Mit ein wenig Anstrengung ist selbst dem leidigen Berliner 1.Mai-Ritual noch ein positiver Aspekt abzugewinnen. Die Empörung über Randalierer und Neonazis nämlich stärke den sozialen Konsens der Mehrheitsgesellschaft und erhalte so die bestehende ökonomische und politische Ordnung, meint Dieter Rucht, der Soziologe und Protestspezialist des Berliner Wissenschaftszentrums.

Die Randalierer bewirken also unbeabsichtigt das Gegenteil dessen, was sie eigentlich wollen – so die ironische Volte einer Studie, die sich mit dem 1.Mai 2002 beschäftigt. Rund 40 Studenten und Mitarbeiter Ruchts hatten sich an diesem Tag auf die 16 Veranstaltungen verteilt und genau hingesehen. Das Ergebnis liegt jetzt in Buchform vor: „Berlin, 1.Mai 2002 – Politische Demonstrationsrituale“ (Hrsg. Dieter Rucht, Leske & Budrich, Opladen).

Kernaussage der Studie ist die Erkenntnis, dass sämtliche Maiveranstaltungen vom Auftritt der Gewerkschaften bis zur rituellen Randale linker Herkunft und den NPD-Aufmärschen überwiegend keine Botschaften an das Publikum sind, sondern in erster Linie der Selbstvergewisserung der Teilnehmer und ihrer Organisationen gelten. Ethnologisch betrachtet führen hier verschiedene, gegeneinander scharf abgesetzte Stämme sich selbst und den anderen Stämmen ihre Besonderheiten vor, aufgeladen mit Symbolen. Dabei ist das Spektrum nach Auffassung der Forscher in Berlin deutlich stärker zersplittert als anderswo in Deutschland und reicht von eher jahrmarktsähnlichen Festen bis zu linksorthodoxen Aufmärschen und gewalttätigen Ausschreitungen. Dies stehe insgesamt in deutlichem Widerspruch zum klischeehaften Bild eines sinnentleerten Rituals, das von den Medien in ihren „Schlachtengemälden“ erzeugt werde, meint Rucht.

Doch gerade wegen des Charakters ritualisierter Beschwörungen hält er gut gemeinte Anti-Gewalt-Maßnahmen wie Straßenfeste für wenig erfolgversprechend, und auch in diesem Jahr erwartet er keinen ganz friedlichen Ablauf. Die einzige Hoffnung, die der Soziologe machen kann, liegt in der Vermutung, dass sich die Teilnehmerzahl auf lange Sicht ausdünnen werde – aber auchnur, falls es keine spektakulären Vorkommnisse, etwa den Tod eines Demonstranten, gebe.

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