zum Hauptinhalt

Berlin: „Was hat er eigentlich gesagt?“

Zwischen Euphorie und Skepsis: Drei Berliner erinnern sich an Joseph Goebbels’ Aufruf zum totalen Krieg vor 60 Jahren im Sportpalast

In jenem Moment, als Joseph Goebbels zum Höhepunkt der wohl berühmtesten Rede des Dritten Reiches kommt, fragt sich Anita Hipel gerade, was sie in den Koffer fürs Krankenhaus packen muss. Die junge Frau aus Tiergarten ist 22 Jahre alt, hochschwanger, die Wehen können jederzeit einsetzen. In ihrer Wohnung läuft an diesem Donnerstagnachmittag das Radio, sie hört, was in diesen Minuten auch Millionen andere Deutsche hören. „Als Goebbels fragte: ,Wollt Ihr den totalen Krieg?‘ und alle schrien: ,Ja!‘ – da dachte ich nur: Oh Gott, jetzt wird alles noch schlimmer“, erinnert sie sich 60 Jahre später. Ihr Mann war in Russland an der Front, der erste Sohn war vor zwei Jahren zur Welt gekommen, die Geburt der Tochter stand bevor, und jetzt noch der totale Krieg? „Motiviert hat uns das nicht mehr“, sagt die Rentnerin. Zumal ihre Familie der SPD nahe stand und von Anfang an gegen Hitler war. „Man hoffte in diesem Moment nur, dass es bald zu Ende ist.“

Fast jeder Berliner, der am 18. Februar 1943 die Rede des NS-Propagandaministers im Schöneberger Sportpalast erlebte oder ihre Übertragung im Radio hörte, erinnert sich noch genau an jenen Tag. Der junge Soldat Carl-Ludwig Schulz hört die Durchhalterede und den Jubel der 14 000 Zuschauer im Dahlemer Tropenkrankenhaus. Aus Russland hat er Malaria mitgebracht. Als die Übertragung der Rede beginnt, müssen sich die Patienten vor dem Radiogerät versammeln. „Wir hatten gerade Stalingrad hinter uns“, erinnert sich Carl-Ludwig Schulz heute. „Im Gegensatz zu den Schreiern im Sportpalast dachten wir Landser in dem Moment: Verdammte Scheiße, jetzt ist es endgültig vorbei. Nun geht’s den Bach runter. An den Endsieg hat von uns keiner mehr geglaubt.“ Zwei Wochen zuvor hatte die Wehrmacht vor Stalingrad kapituliert, Schulz und seine Kameraden hatten das Vertrauen in Hitler verloren. „Nach der Rede saßen wir da und machten lange Gesichter“, erinnert sich der Rentner, der heute in Zehlendorf lebt. „Wir waren ja auch schon vorher mit so viel Propaganda beschallt worden, dass wir das jetzt nicht mehr ernst nahmen.“

Tags darauf erfuhr Schulz, dass wohl auch manch einer aus dem ausgewählten Publikum im Sportpalast nicht jedes Wort von Goebbels für bare Münze genommen hat, Jubel hin, Jubel her. Sein Vetter Horst war unter den Zuschauern, die Goebbels’ Rede mit lauten Ja-Rufen quittierten, „Als das Volk aus dem Sportpalast rausströmte, hörte er einige sagen: Na, wenn det ma jut jeht.“ Auch war sich offenbar manch ein Claqueur gar nicht bewusst, wofür er da jubelte. „Neben meinem Vetter saß einer, der schrie aus vollem Halse Jaaa, als Goebbels das mit dem totalen Krieg fragte. Hinterher sagt er zu meinem Vetter: ,Was hat der eben eigentlich gesagt?‘“

Brigitte Scholl hört Goebbels’ Kampfrufe in einer Werkshalle der Rüstungsfirma Berliner Physikalische Werkstätten in der heutigen Genthiner Straße. Die 19-Jährige war zwangsweise als Sekretärin hierher verpflichtet worden. „Die ganze Belegschaft wurde vor dem Radio zusammengetrommelt, wie sie das auch bei Hitler-Reden immer gemacht haben“, erinnert sich die Seniorin, die heute in Steglitz lebt. Die Rede hört sie mit gemischten Gefühlen. „Einerseits war nach Stalingrad die Stimmung am Boden. Andererseits war die Hoffnung auf den Endsieg ein Strohhalm, an den man sich trotz allem klammerte.“ Der sehnlichste Wunsch der jungen Frau war in jenen Tagen, dass der Krieg endlich aufhören möge, so oder so. „Tags war Fliegeralarm, nachts war Alarm. Wir haben 50 Stunden pro Woche gearbeitet, und wer nicht morgens um sieben erschien, kam vors Kriegsgericht. U-Bahn und Straßenbahnen fuhren oft nicht mehr, also musste man zur Arbeit laufen. Nach der Arbeit stand man stundenlang nach Lebensmitteln an. Und wenn man gerade das Abendessen bereiten wollte, war schon wieder Alarm und wir mussten in den Keller.“ Für Kriegsbegeisterung, wie sie die Aufnahmen aus dem Sportpalast suggerieren, hatte Brigitte Scholl da schlicht keine Kraft mehr.

Zur Startseite