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So wird im Saal des Abgeordnetenhauses derzeit die Einhaltung des Mindestabstands geregelt.

© Arne Bänsch/dpa

Was tun bei einem Corona-Ausbruch im Parlament?: Berliner Abgeordnetenhaus fehlt ein Plan für eine zweite Welle

Wie bleibt das Parlament beschlussfähig, sollten sich viele Abgeordnete infizieren? Es gibt Ideen vom Notparlament bis zu Online-Sitzungen – aber keine Lösung.

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Es fehlte nicht viel, und der 9. März hätte Abgeordnetenhaus und Senat zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt in eine schwere Krise gestürzt. An jenem Montag versammelten sich zahlreiche Spitzenvertreter von Regierung und Parlament, darunter der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), anlässlich einer Feierstunde im Festsaal des Parlaments.

Ebenfalls zu Gast: Jeremy Issacharow, israelischer Botschafter in Deutschland und – zum Entsetzen vieler – wenig später positiv auf das Coronavirus getestet. Nach hektisch anberaumten Tests, der kurzfristigen Absage einer Parlamentssitzung inklusive Regierungserklärung und der Quarantäne mehrerer Spitzenpolitiker folgte schließlich die Entwarnung: Issacharow war zum Zeitpunkt der Veranstaltung nicht ansteckend, eine Infektion der Veranstaltungsteilnehmer laut Gesundheitsamt Mitte „ausgeschlossen“.

Und dennoch blieb diese Warnung nicht ohne Folgen: In und zwischen den Fraktionen entbrannte eine Diskussion darüber, wie das Abgeordnetenhaus krisensicher gemacht werden kann, sprich bei Ausfall von mehr als der Hälfte aller 160 Parlamentarier beschluss- und damit handlungsfähig bleibt.

Derzeit liegt das Quorum für die Beschlussfähigkeit bei 50 Prozent aller Abgeordneten und ist, anders als beispielsweise beim Deutschen Bundestag, in der Landesverfassung geregelt.

Eine Änderung des Quorums braucht deshalb eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und damit mindestens eine Einigung der Koalitionsparteien, ergänzt durch die Zustimmung einer oder mehrerer Oppositionsfraktionen.

Keine Zweidrittelmehrheit in Sicht

Beschleunigt durch die Ende März bekannt gewordenen ersten beiden und bis heute einzigen Corona-Infektionen im Parlament und intern kursierende Hochrechnungen über drastisch steigende Infektionsraten in Berlin lagen schnell erste Vorschläge auf dem Tisch.

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Die SPD wollte ein Notparlament mit reduzierter Teilnehmerzahl einführen, scheiterte aber an der Ablehnung ihrer Partner sowie FDP und AfD. Ebenfalls nicht mehrheitsfähig: Ein Vorschlag des Parlamentspräsidenten. Ralf Wieland (SPD) plädierte für eine „minimale“ Änderung der Verfassung durch die Streichung von Artikel 43 Absatz 1. Dieser formuliert die Untergrenze der Beschlussfähigkeit. Doch auch dafür fehlte die Aussicht auf eine Zweidrittelmehrheit.

Parlamentspräsident Ralf Wieland bei der Enthüllung des Porträts von Ehrenbürgerin Margot Friedländer am 9. März, rechts Malerin Stephanie von Dallwitz.
Parlamentspräsident Ralf Wieland bei der Enthüllung des Porträts von Ehrenbürgerin Margot Friedländer am 9. März, rechts Malerin Stephanie von Dallwitz.

© Mike Wolff

Und weil schließlich auch eine weitere SPD-Initiative eines Entwurfs für ein „Pandemie-Gesetz“ verpuffte, das in „außergewöhnlichen Notfallsituationen“ die Unterschreitung des Quorums ermöglicht hätte, gibt es bis heute keine Lösung.

„Das wird nichts mehr in dieser Legislatur, keine Chance“, ist von Vertretern der in die Verhandlungen involvierten Mitglieder des Krisenstabs im Abgeordnetenhaus zu hören. Über die Gründe existieren verschiedene Versionen.

CDU und FDP kritisieren die Regierungsfraktionen

Für den parlamentarischen Geschäftsführer der CDU-Fraktion, Heiko Melzer, ist die Sache klar: Verfassungsänderungen für ein krisenfestes und digitales Parlament sind an der fehlenden gemeinsamen Linie der Koalition gescheitert sind.

„Eine verpasste Chance“ sei das, sagt Melzer. „Worte und Körpersprache der Koalitionsvertreter erinnern eher an das Ende einer verkorksten Ehe und den letzten Termin beim Scheidungsanwalt als an ein konstruktives Miteinander.“

Im Grunde sei man „wegen der Uneinigkeit der Koalition keinen Zentimeter weiter“, erklärt Melzer und wirft den Koalitionsfraktionen vor, eine Einigung scheitere „an der fehlenden Fähigkeit, miteinander Kompromisse einzugehen. Gerade wenn es um Verfassungsanpassungen geht, die aus gutem Grund eine Zweidrittelmehrheit benötigen, muss man einen breit getragenen Kompromiss finden. Wenn man da nur eigene grüne Ziele im Kopf hat, ist das unmöglich“, zielt Melzer in Richtung einer der drei Regierungsparteien.

Sein FDP-Amtskollege Paul Fresdorf ergänzt: „Ich halte die Blockade für unverantwortlich und kann sie nicht nachvollziehen. Da wird sehenden Auges eine Situation in Kauf genommen, die wir zusammen hätten abwenden können.“ Genau wie die CDU hätten sich nach anfänglichen Bedenken auch die Liberalen sowie die AfD einer Absenkung der Beschlussfähigkeit in klar definierten und begründeten Ausnahmefällen anschließen können.

Digitale Ausschusssitzungen sind jetzt schon nötig

Allein an Linken und allen voran den Grünen sei das gescheitert, weil beide erstens eine Verfassungsänderung ablehnten und zweitens auf die Option digitaler Parlamentssitzungen und Abstimmungen beharrt hätten, erklären Fresdorf und Melzer.

Derart attackiert wiederholt Stefan Ziller, stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Fraktion und Experte für Digitalisierung und Verwaltung, dass es seiner Ansicht nach eine Verfassungsänderung für die Aufrechterhaltung eines beschlussfähigen Parlaments gar nicht bräuchte.

Digitale Ausschusssitzungen seien jetzt schon möglich, sagt Ziller mit Blick auf die mittlerweile eingeübte Praxis, nicht anwesende Ausschussmitglieder telefonisch zuzuschalten und die Sitzungen online zu streamen.

Virtuell abgehaltene Plenarsitzungen wiederum nennt auch Ziller eine „Hürde“. Er räumt ein, dass es schwierig sei, „eine technische Sicherheit zu gewährleisten“ und dass es für politische Debatten auch einen reellen Austausch von Angesicht zu Angesicht im Parlament bräuchte. Dennoch schlägt er vor, dass es in der Geschäftsordnung die Möglichkeit geben müsste, Abstimmungen per Videoschalte zu ermöglichen und zur Verhinderung von Manipulationen eine „nachgeschaltete Briefwahl“ organisiert werden müsse.

Keine Lösung für digitale geheime Wahlen

Unter anderem bei der SPD beißt er damit auf Granit und die wissenschaftlichen Parlamentsdienste von Bundestag und Abgeordnetenhaus kommen ebenfalls zu einem anderen Schluss. Selbst Digitalexperten und -aktivisten warnen immer wieder, digitale Abstimmungen seien intransparent und manipulationsanfällig. Und zwar auch, weil die Software hinter Wahl- und Abstimmungsprogrammen für die meisten Bürger nicht nachvollziehbar ist.

Marina Weisband, ehemalig Spitzenfrau der Piratenpartei und mittlerweile Mitglied sowie Beraterin der Grünen in netzpolitischen Fragen, erklärt: „Wir haben derzeit weltweit keine Lösung für digitale geheime Wahlen. Das ist ein Riesenproblem, aber das ist einfach so.“ Sie plädiert für digitale Veranstaltungen in Kombination mit Briefwahlen.

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Bleiben die Linken. Sie vertreten eine ähnliche Position wie ihre Koalitionspartner von den Grünen. „In Notsituationen muss ein digitales Zusammenkommen des Parlaments möglich sein“, betont der parlamentarische Geschäftsführer Steffen Zillich. Er ist wie Ziller aber der Ansicht, dass das Grundprinzip gelten müsse, reell und nicht virtuell über politische Inhalte und Meinungen im Parlament zu diskutieren.

„Wir brauchen einen sinnvollen Instrumentenkasten“

Für eine digitale Sitzung müssten „Notfälle und die Reichweite genau definiert werden“, sagt Zillich und plädiert für ein eingeschränktes Entscheidungsspektrum. Nicht zulässig sollten im digitalen Bereich zum Beispiel Anträge sein, das Parlament aufzulösen. Und sollten Gesetze via Stream beschlossen werden, müssten diese während einer reellen Sitzung im Nachgang ratifiziert werden. Ausschusssitzungen müssten digital möglich sein.

Das sind sie schon jetzt, aber Zillich will die Frage klären, wie sich die Abgeordneten an einer Debatte beteiligen können, und wie dabei Experten angehört werden können.

Zillich betont, dass die Öffentlichkeit auch die Möglichkeit haben müsse, an digitalen Ausschusssitzungen teilzunehmen. „Wir brauchen einen sinnvollen Instrumentenkasten, um in Notsituationen den parlamentarischen Betrieb aufrechtzuerhalten“, sagt Zillich.

Diesen mit den von allen akzeptierten Werkzeugen zu befüllen, dürfte in dieser Legislatur wohl nicht mehr gelingen. Für eine mögliche zweite Infektionswelle ist das Berliner Abgeordnetenhaus schlicht nicht vorbereitet.

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