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„We will call out your name“: Im Namen der vielen Namen

Eine jüdische Sängerin will eine neue Kultur der Erinnerung an den Holocaust schaffen. Mit einem Comic, einem Blog – und ausgedachten Geschichten.

Als Avitall sieben Jahre alt war, fragte sie ihre Großtante Jolly, warum eine Nummer auf ihren Arm tätowiert sei. Tante Jollys Geschichte geht so: Die Nummer, ihre Häftlingsnummer, wurde ihr im Kontrationslager Auschwitz gestochen. Sie hat überlebt. Ihre Schwester Rozsika nicht, sie wurde sofort nach der Ankunft in die Gaskammer geschickt.

Avitall Gerstetter ist heute 41. Die zierliche Frau mit den roten Locken wuchs in einer traditionell jüdischen Familie in Berlin auf und studierte Gesang an der Universität der Künste. Heute ist sie die erste Kantorin der jüdischen Gemeinde in Berlin. Gerstetter spricht langsam und leise, wirkt fast schüchtern. Man merkt, dass die Geschichte ihrer Großtante sie bis heute nicht losgelassen hat.

Eine neue Erinnerungskultur schaffen

Ein Comicband, den Gerstetter im Rahmen ihres Projekts „We will call out your name“ („Wir werden eure Namen rufen“) veröffentlicht, soll an ihre ermordete Großtante erinnern. Ihr Name ist nur einer von vielen. Die Basis des Comics bildet die Geschichte von Rozsika und Hannah, die in Auschwitz ums Leben kommen. Auf einem Blog können Jugendliche dann ihre eigene Version der Geschichte entwerfen. Was wäre, wenn die beiden Auschwitz überlebt hätten? Wären sie verheiratet? Welchen Beruf hätten sie gelernt? Die beste Idee wird in den Comic eingebunden und gezeichnet. „Ich will das Interesse der Jugendlichen wecken, zu recherchieren und sich Gedanken zu machen“, sagt Gerstetter. Die Geschichte soll zudem als Jugendbuch erscheinen, illustriert von Inbal Leitner, deren Großtante Hannah auch in Auschwitz starb.

Mit ihrem Projekt will die Sängerin eine neue Erinnerungskultur schaffen. Es gibt kaum noch Zeitzeugen, die den Holocaust selbst miterlebt haben. Deshalb will Gerstetter deren Geschichten festhalten und hofft, „dass in Zukunft andere Menschen noch viele solcher Geschichten wie die von meiner Großtante erzählen“.

Nun sollen Jugendliche daran mitschreiben – und dürfen sie dabei auch verändern.
Nun sollen Jugendliche daran mitschreiben – und dürfen sie dabei auch verändern.

© promo

Das Projekt „we will call out your name“ startet mit einer Erinnerungstour, deren erste Station Auschwitz ist. Am 22. Januar gibt Gerstetter dort ein Konzert, zwei Tage später eins an der Gedenkstätte der Wannseekonferenz. Die Tour geht den „umgekehrten Deportationsweg“, wie Gerstetter sagt. Am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des KZ Auschwitz, gibt die Sängerin zum Abschluss der Tour ein Konzert im Berliner Dom. Tänzer stellen das Leben der Mädchen nach. Schauspieler Michael Mendl liest Ausschnitte aus dem Jugendbuch. Und Gerstetter spielt mit ihrer Band Lieder, die sie für die Tour geschrieben hat. Auch ihre Großtante Jolly wird die Sängerin begleiten. Zum ersten Mal nach 1945 kehrt sie nach Auschwitz und Deutschland zurück. Finanziert wird das Projekt durch den Verkauf von Erinnerungsboxen mit einer CD der Sängerin. Die erste Box ging an den israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres, der 2010 in einer Rede im deutschen Bundestag von seinem Großvater erzählte. Dieser wurde von den Nazis in eine Synagoge gesperrt und verbrannt. Gerstetter war damals bei der Rede dabei. Dort wurde ihr klar: Die beste Form, sich zu erinnern, ist, Geschichten von Menschen zu erzählen.

Weiter Informationen zu dem Projekt gibt es auf der Website www.we-call-out.com.

Eva Riedmann

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