zum Hauptinhalt

Berlin: Wechselstrom

Am Tag des Volksentscheids kam die Stadt nur langsam in Schwung. Und sie war voll von Unentschlossenen. Selbst Menschen, die sonst immer Rat wissen, konnten sich diesmal bis zuletzt nicht entscheiden. Ein Blick auf den Tag.

„Es ist ein solches Privileg, dass wir in einer Demokratie leben. Deshalb finde ich, wenn das Volk gefragt wird, sollte es auch kommen und wählen. Ich habe mit ,Ja‘ abgestimmt, weil ich es besser finde, wenn die Stromversorgung in staatlicher Hand liegt, statt bei privaten Firmen. Dann kann auch bei den Preisen nicht so an der Schraube gedreht werden.“

Linus Thielen, 22, Friedrichshain

Graue Suppe, leere Straßen: Gemessen an dem latenten Gesumm, das über „echten“ Wahlsonntagen liegt, verlief der Tag des Volksentscheids zunächst eher unspektakulär: Morgens um acht öffneten die Abstimmungslokale weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wobei sich das Wetter umgekehrt proportional zum Andrang verhielt: Erst nur typisches Novembergeniesel – doch als das nachließ, schwoll der zunächst spärliche Strom der Wähler an. Dass das Wetter Wahlen beeinflusst, ist hinlänglich bekannt: Allzu perfekt sollte es nicht sein, weil die Wähler dann lieber ins Grüne fahren, als an die Urne zu gehen. Diese Erfahrung kann man als grundsätzlichen Vorteil des Novembertermins sehen. Aber wenn es draußen so ungemütlich ist, dass man nicht mal einen Hund vor die Tür schicken möchte, dann bleibt man selbst erst recht zu Hause – was schlecht ist für die Initiatoren eines Volksentscheids, die mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten dazu bewegen müssen, ihr Ja ins Wahllokal zu tragen, sofern sie es nicht schon vorab in den Briefkasten gesteckt haben. So stand die große Entscheidung am Ende eines Tages voll kleiner Geschichten. Einige davon erzählen wir hier:

Kurz nach acht in Wilmersdorf: Die Straßen sind leergefegt, Brötchenholer werden nass. An der Bundesallee wird in der Zillestube gewählt. Das Team im Wahllokal 167 wartet auf seinen dritten Wähler. Zwei Damen im Barbara-vonRenthe-Fink-Haus schieben ihre Rollatoren gen Wahllokal. „Na ja, es ist ein Ausflug, so kommt man wenigstens mal raus“, sagt die eine zur anderen.

Im Wahllokal 310 in Lichterfelde wurde um eine Flasche Schampus gewettet, dass in der ersten Stunde niemand kommt. Der französische Edel-Sekt muss geschlossen bleiben: Bis 9 Uhr waren schon sieben Wähler da. Das Wahlhelferteam ist dasselbe wie zur Bundestagswahl. „Aber damals sind wir keine Minute zum Quatschen gekommen!“ Vor allem Familien mit kleinen Kindern kämen frühmorgens. „Schreiben Sie mal, dass die Leute wählen kommen sollen, damit die Wahlhelfer sich nicht langweilen“, heißt es zum Abschied. Um die Stimmung muss man sich hier keine Sorgen machen.

Letzte Beratung vor der Tür der Albert- Einstein-Volkshochschule in Schöneberg: „Gut, dass ich dich hier treffe“, sagt eine Frau zu ihrem Nachbarn, „sag mir noch mal schnell, worum es jetzt eigentlich geht!“ – „Ob die Energieversorgung in privater oder öffentlicher Hand liegt.“ – „Und was ist besser?“ Es folgt eine Tirade an Belehrungen.

Das Abstimmungslokal in Moabit ist „barrierefrei zugänglich“, schreibt die Landeswahlleitung. Es regnet, aber das Anliegen ist der Rollstuhlfahrerin wichtig. Sie fährt durch die Levetzowstraße vor den Haupteingang der Schule, die in großen Lettern „Miriam-Makeba Grundschule“ verheißt – ohne zweiten Bindestrich; erstaunlich für eine Schule, dass man dort die Zeichensetzung nicht beherrscht. An der Mauer zeigt ein Pfeil nach links, vermeintlich zum Haupteingang. Dort wiederum zeigt ein Pfeil nach rechts. Zwischen den Pfeilen zwei geschlossene Eingänge. Wo geht es jetzt ins Wahllokal? Letztlich weist ein freundlicher Wähler auf den Nebeneingang in der Zinzendorfstraße hin, diese Adresse stehe wohl auch in der Wahlbenachrichtigung, die liegt aber zu Hause. Wieder jede Menge Pfeile, der Rollstuhl fährt durch Pfützen und Matsch, durch einen ganz engen Gang, um Ecken. Kurz vor dem Eingang eine Stufe, etwa 20 Zentimeter tief. Gott sei Dank kann die Dame im Rollstuhl noch wenige Schritte zu Fuß gehen, sonst wäre ihre Wahl hier zu Ende.

Vormittags in Schöneberg; ein skeptischer Wähler: „Volksentscheid hin oder her: Das schafft Berlin doch sowieso nicht. Gucken Sie sich doch mal an, wie es um unserem Flughafen steht!“

Wenn es um die Demokratie geht, soll niemand vor verschlossener Tür stehen: „Liebe Hausbewohner, Sie werden herzlich gebeten, die Haustür am Wahlsonntag geöffnet zu halten, damit die Bürger ihr Wahlrecht ausüben können!“, heißt es auf einem Zettel am Ausgang zweier Wahllokale.

„Schon gewählt?“ – „Nee, bin noch unsicher.“ Das ist der zentrale Wortwechsel des Sonntagvormittags in Berlin. Zu hören an Frühstückstischen, in Treppenhäusern, in der S-Bahn. Und beim Gassigehen mit dem Pudel in Lichterfelde auch vom Nachbarn. Professor der Physik, pensioniert, ein kluger Mann, der jeden Tag den Tagesspiegel emsig studiert und zumeist überzeugt eher linke Positionen vertritt. So hilfesuchend, ja geradezu hoffnungsvoll, dass ihm der Redakteur endlich schlagkräftige Argumente liefern möge, kennt man ihn gar nicht.

Im Wahllokal 108 in Kreuzberg wird ein Wähler seine Stimme nicht los: Er hat sich als Briefwähler registrieren lassen, will nun doch vor Ort wählen. Das geht nicht. Eine Ja-Stimme weniger.

„Was ich gewählt habe, sage ich nicht. Aber diese Abstimmung zum Volksentscheid war mir wichtig.

Ich habe mich sehr gründlich darauf vorbereitet, immer Zeitung gelesen. Dadurch war ich mit der Problematik vertraut.

Etwas schade finde ich es, wenn ich sehe, wie wenige Wähler unterwegs sind. Zur Bundestagswahl war hier mehr los.“

Ursula Barzen, 51, Lichterfelde

„Es ist ein großes Projekt für Berlin, wenn die Stromversorgung wieder in öffentliche Hand geht. Ich finde den Enthusiasmus gut, mit dem dieser Volksentscheid betrieben wird.

Deswegen ist auch eine große Beteiligung bei dieser Abstimmung wichtig. Es ist ja selten genug, dass man in der Demokratie gefragt wird, da fühle ich mich dann auch moralisch verpflichtet, abzustimmen.“

Sarah Niehus, 32, Kreuzberg

„Ich habe mit ,Ja‘ gestimmt, weil ich das Gefühl habe, dass wir mit der Privatisierung die Energieversorgung und ihre Preise dem Markt überlassen. Das finde ich nicht so gut. Aber grundsätzlich finde ich es wichtig, an einer Wahl teilzunehmen, wenn man wie bei diesem Entscheid nach seiner Stimme gefragt wird.“

Markus Breitsameter, 41,

Schönberg

„Ich mache mir Sorgen um das Ergebnis des Entscheids, weil es um eine große Summe Geld geht, die aufgewendet werden muss. Ob das alles erfolgreich refinanziert werden wird? Aber was der Senat mit dem Stadtwerk gemacht hat, überzeugt mich nicht. Deshalb habe ich auch mit ,Ja‘ abgestimmt, selbst wenn ich etwas gebraucht habe, alles zu durchblicken.“

David Steinbart, 21, Kreuzberg

Zur Startseite