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Weiße Weihnachten: Stille Pracht

Seit Wochen schon werden die Berliner von all den Übeln eines strengen Winters geplagt. Doch an den Feiertagen ist es Zeit, die Schönheiten des Schnees, die Entschleunigung und die Ruhe in der Stadt zu genießen.

Heiligabend kam er endlich runter vom Himmel hoch. Nicht sanft und still und feierlich, eher frech und von Windböen über die Stadt getrieben. Plötzlich, kaum hatten die Pfarrer am späten Nachmittag ihre Fürbitten beendet, erfüllte sich das Versprechen der meteorologischen Heerscharen: Die weiße Weihnacht war da. Fast heimlich schlich sie sich in unsere gute City-Stube, vertrieb die Nachtschwärmer vom Pariser Platz, setzte sich auf die Tanne aus norwegischen Wäldern und spielte mit den Lichtkegeln der Scheinwerfer am  Brandenburger Tor. Diese Nacht verzauberte Berlin. Und gestern früh hatten wir die neue Winter-Wunder-Stadt mit all ihren Accessoires, den Schneebergen am Straßenrand, den Autos mit ihren weißen Kapuzen, den unschuldigen Schlagsahne-Bäumen und den weiten, unberührten Flächen. Ludwig van Beethoven am Komponistendenkmal im Tiergarten schützt, wie seine Kollegen Haydn und Mozart, die Ohren mit einer weißen Mütze, nebenan ziehen die ersten Skilangläuferinnen ihre Spuren in den Schnee. Gleich auf drei Loipen verteilen sich die Läufer, die die Freiheit des neuen Lebens der Rollbahn vom Flughafen Tempelhof für sich entdeckt haben. Hier grüßt jeder jeden, selig lächelnd erobert man sich sogar am späten Abend und auch nachts die Tempelhofer Weite – und wenn nun noch die Sonne schiene, wäre das Glück mit dem Glitzern der himmlischen Eiskristalle nahezu vollkommen.

Was hat uns der Schnee in der Stadt nicht schon alles gebracht?! Die Entdeckung der Langsamkeit. Den sanfteren Gang. Denn die „weiße Pracht“ bremst jede Hektik, wenn man seinen Bus bekommen möchte (so der überhaupt um die Ecke biegt). Beim Warten studieren wir die Kopfbedeckungen und Schals der anderen, nie gab es so viele Kopftuchmädchen wie heute, und in jedem Theater oder in der Philharmonie drohen abends die Garderobenständer zusammenzubrechen, wenn sich jeder endlich aus den Siebensachen gepellt und dann auch noch die Schuhe gewechselt hat. Die Stadt ist aus dem Takt geraten. Die Spree trägt Eis. Wer sich nicht unbedingt hinter das Steuer setzen muss, der lässt es bleiben. „Wir hatten seit Heiligabend viel weniger zu tun als in den hektischen Tagen davor“, sagt Michael Möthlich vom Lagedienst der Feuerwehr, „Schnee und Feiertage bringen Ruhe, Vernunft und Gelassenheit mit sich, die Leute sitzen halt lieber hinter dem warmen Ofen, bildlich gesprochen.“ Was wurden die Berliner in den letzten Wochen von all den Übeln des strengen Winters geplagt, von vollen Zügen, Bahnausfällen, Busverspätungen, vereisten Türen … Jetzt während der Feiertage aber können sie endlich die Schönheiten Seiner Majestät des Winters genießen, der, wie man sieht, nicht nur einer der Hauptfeinde des Sozialismus war, sondern auch im Kapitalismus allerlei zum Erliegen bringt. Dabei hämmern uns Lieder und Radioansager ein, dass weiße Weihnachten als Nonplusultra-Beigabe zur Stillen Nacht gehören müssten. Was sagt die Fachwelt? Professor Isabella Heuser, die Direktorin der Klinik für psychologische Medizin an der Charité, meint, dass unser aller Gespür für Schnee und die Sehnsucht nach dem ruhigeren Gang den Wunsch nach der weißen Weihnacht begründen.

„Schnee dämpft die Geräusche, führt zu mehr Helligkeit, es strahlt so schön, alles ist sauber. Reinheit wie Sauberkeit sind wichtige Bedürfnisse des Menschen. Und Schnee entschleunigt. In unserer schnelllebigen Zeit, wo wir immer unter Druck gesetzt werden, sollte man solche Entschleunigung genießen“ – in seiner Wohnung, seinem Iglu, mit allen Genüssen, die das Fest noch zu bieten hat. Doch wie kann man die Entspannung in die Zeit danach, ohne Gänse, Glocken und Gesang, hinüberretten? Kann man nicht, „aber Kraft kann man tanken, ausruhen, den Schnee mit seiner knirschenden Stille genießen und gute Vorsätze fassen, die dann später sowieso über den Haufen geworfen werden“.

Apropos Genuss: Für ihn nehmen sich die Festtagsgäste im Hotel Adlon viel mehr Zeit als in der Hektik anderer Tage des Jahres. Kein Business, sondern Teatime mit Verwöhnaroma. „Unsere Gäste entdecken dabei sich und die Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten“, sagt Sabine Kalkmann vom Adlon. Ein Trip in die Reichstagskuppel fällt dabei freilich in den Schnee. Vier Sprachen verkünden: Die Kuppel ist closed. Aus Sicherheitsgründen. Nur das Restaurant ist geöffnet. „Aber wollen Sie auf einem Pulverfass sitzen und ihre Henkersmahlzeit einnehmen?“ fragt ein Polizist vor dem Eingang. Schnee hat schon immer den Berliner Galgenhumor gefördert, uns kann nämlich keena, is det klar?

Und tierlieb sind wir auch, nicht nur bei Knut. Jetzt ist die Zeit für Vogelfutter im Schnee. Im Gebüsch tschilpen sie, die Wintergäste der Stadt, und Bertolt Brecht hat ihnen ein immer gültiges Kinderlied gewidmet: „Ich bin der Sperling. Kinder, ich bin am Ende. Und ich rief euch immer im vergangenen Jahr wenn der Rabe im Salatbeet war. Bitte um eine kleine Spende. Sperling, komm nach vorn. Sperling, hier ist dein Korn.“

Eine Taube pickt in der Taubenstraße die Reste der Bratwurst weg, die jemand auf dem Weihnachtsmarkt am Schauspielhaus weggeworfen hatte. Ja, auch einen Tag nach der Bescherung schnürt man schon wieder kauflustig über den Gendarmenmarkt. Ein Kipper schiebt lässig den Schnee beiseite, die Händler sind glücklich, denn die Touristen kommen zuhauf: Berlin im Schnee „is very okay“.

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