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Berlin: Weißt Du noch?

Von Moritz Schuller Kreuzberg. Ja, der Graupmann.

Von Moritz Schuller

Kreuzberg. Ja, der Graupmann. An den Graupmann erinnern sie sich alle. „Der war ein ganz hohes Tier in der SA“, sagt Theodor Symalla. Und er war ihr Sportlehrer. Wer am Kreuzberger Leibniz-Gymnasium eine Eins im Abi haben wollte, musste für Graupmann an einem Seil bis zur Decke hochklettern. Hat das eigentlich je einer geschafft, fragt Gerhard Drath seine ehemaligen Mitschüler.

Vor 64 Jahren haben sie hier Abitur gemacht, 1938 war das, und wieder einmal trifft man sich in der Schule am Mariannenplatz. Die Sporthalle existiert nicht mehr, und auch das Eckhaus zur Wrangelstraße, wo damals der Rektor wohnte, ist weg. Hier lernt keiner mehr Latein und Griechisch. Für die meisten gibt es nur noch eine Fremdsprache: Deutsch. 85 Prozent der Schüler an der Nürtingen-Grundschule sind heute Ausländer. „Pisa“, sagt Direktor Gerd-Jürgen Busack, „war für unsere Kollegen keine Überraschung.“ Die alten Herrschaften nicken.

Paul Hempels Abiturklasse. Sie nannten ihn Pferdepaul. Die anderen Lehrer hießen Atze, Pupe oder Putenschlund. Putenschlund war der Studienrat Dr. Baumann. 1930 waren sie aufs Leibniz-Gymnasium gekommen, die meisten aus der Nachbarschaft. Theodor Symalla wohnte in der Manteuffelstraße 68, gleich um die Ecke. Heute wohnt der ehemalige Lehrer in Bocholt und wenn die Grundschüler laut durch den Gang rennen, hält er sich mit beiden Händen die Hörgeräte zu. Symalla ist der Archivar seines Jahrgangs. Für die kleine Ausstellung im Flur hat er sein Abizeugnis zur Verfügung gestellt: Sein Vater war Polier bei den Gaswerken, steht dort, sein Wesen „liebenswürdig und heiter“.

Symalla zeigt auf sein Zeugnis aus der Quarta: Strauß hatte es unterschrieben, der geliebte Lateinlehrer. Ein Jude. Symalla fand ihn später in Nordamerika wieder. Bruno Strauß hatte also überlebt. Und während Symalla das erzählt, setzt er sein blaues Sextanerhütchen von damals auf.

Gerhard Drath hat erst 1943 Abitur gemacht, doch als ehemaliger Direktor der Nürtingen-Grundschule ist er sozusagen Gastgeber und Mitschüler in Personalunion. Er habe damals mal einen Mitschüler nach der Uhrzeit gefragt, erzählt Drath. Als Antwort bekam er eine Ohrfeige: „Seid wann duzt man einen Oberprimaner?“

1988 hatte sich die ehemalige 1a zum ersten Mal wiedergetroffen, fünfzig Jahre nach dem Abitur. Da war auch Werner Struve aus dem Osten gekommen. Struve hatte an der erweiterten Oberschule am Frankfurter Tor unterrichtet, bis er vorzeitig entlassen wurde. „Ideologisch nicht auf der Höhe der Zeit“, hatten sie in seine Kaderakte geschrieben, dabei hatte er nach dem Humanismus auf dem Leibniz sogar noch zwei Jahre Marxismus-Leninismus drangehängt. „Und mit 1 bestanden“, sagt seine Frau. Auch der Publizist Joachim Fest war 1937 für einige Zeit auf das Leibniz-Gymnasium gekommen. „Eine Schule ohne Ruf“, schrieb Fest später. Dabei hat das Leibniz-Gymnasium sogar einen Reichskanzler der Weimarer Republik produziert: Hans Luther. „Wenn wir faul waren, oder frech, wurde der uns als Vorbild hingestellt“, erzählt Symalla.

Auf einem frühen Klassenfoto trägt ein einziger Schüler Uniform. Und das Bild des Führers, Pflichtaustattung eines Klassenzimmers, ist klein wie eine Briefmarke. Doch auch aus dem Leibniz-Gymnasium verschwanden die jüdischen Mitschüler von einem auf den anderen Tag. „Keiner hat Fragen gestellt“, sagt Jürgen Glaeser. Glaeser, wie fast alle aus diesem Jahrgang, absolvierte nach dem Abitur den zweijährigen Wehrdienst. Er hat Polen mitgemacht, später kam er in Kriegsgefangenschaft. Als er hörte, dass die Russen seinen Vater ins KZ gesperrt hatten, kam er gar nicht erst nach Berlin zurück. Er wurde Sportmediziner in Wiesbaden. Hempels Abiturienten hatten Glück: Nur zwei von ihnen fielen im Krieg.

Irgendwann sind die Alt-Gymnasiasten von den türkischen Grundschülerinnen umringt. Symalla setzt noch mal seine Mütze auf, damit sie was zu lachen haben. „Was, Du bist Arzt?“, fragen sie ehrfurchtsvoll. Glaeser nickt, und die Mädchen klatschen. „Sie haben den Krieg überlebt?“, fragt eine andere. „Sonst wäre ich ja nicht hier“, sagt Symalla und lächelt. So unterhalten sie sich noch ein Weile in der Eingangshalle ihrer Schule. Der 82-Jährige mit der Sextaner-Mütze und die Neunjährige mit dem Kopftuch.

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