zum Hauptinhalt

Weit im Westen: Berlin bei Spandau

Stadtrand, Stolz und Vorurteil: Unser Autor Lucas Vogelsang macht sich auf die Suche nach der Identität seines verkannten Heimatbezirks.

Es ist ein Aufkleber, der das Selbstverständnis der Spandauer ganz gut zusammenfasst. Er klebte an der Wohnungstür meiner Großmutter, dunkles Sperrholz, Messingknauf. Darauf, schwarz auf gelb, ein Wegweiser mit zwei Pfeilen. Geradeaus ging es, in fetten Großbuchstaben, nach Spandau, links ab und vorortklein in Richtung Berlin. Ich habe das als Kind nie richtig verstanden.

Wenn mich früher im Urlaub jemand gefragt hat, woher ich komme, war die Antwort klar: Berlin. So wie jemand aus Schöneberg ja auch Berlin sagen würde und eben nicht Schöneberg. Nur auf Nachfrage sagte ich dann meist noch: Spandau. Und erntete, aha, ein Schulterzucken.

Wenn ich heute, mittlerweile in Mitte angekommen, auf dieselbe Frage mit „Spandau“ antworte, gibt es eigentlich nur zwei Reaktionen.

„Ihr da draußen in Spandau, ihr seid ja schon ein Völkchen.“ So spricht man gemeinhin mit Exoten, die auf Schrottplätzen wohnen oder mit Kindern einer Zirkusfamilie. Und doch ist das die harmlose Variante. Die andere ist dreckiger und meist eine nonverbale. Kaum merkliches Naserümpfen, Fremdscham-Mimik, während im Geiste des Gegenübers der Spandau-Film abläuft. Ein Zusammenschnitt einer RTL2-Reportage, auf Streife mit dem Ordnungsamt. Verwahrloste Kinder, Kriminalität, Elendsviertel am Ende der U7, Migrationsproblematik. Ein Schulterzucken aber gibt es nie.

Jedoch spiegeln auch diese Vorurteilsbilder, wie alle Klischees, zumindest in Ausschnitten, die Realität. Spandau verslumt, seit Jahren schon. Mir fällt das immer dann auf, wenn ich in die Straße fahre, in der ich groß geworden bin. Hakenfelde, das war mal Westberliner Stadtrand-Gemütlichkeit. Die Läden hießen „Rösler’s Feinbäckerei“ oder „Kartoffel Krohn“, es gab einen Kaiser’s, ein Reformhaus, eine Berliner Bank.

Ich habe dort eine Bullerbü-Kindheit erlebt. Unschuldige Sommer, Spielstraßen-Romantik. Spandau war deshalb lange mehr ein Gefühl als ein Ort. Wahrscheinlich ist das die Definition von Heimat. Mittlerweile aber ist Spandau für mich, von Berlin-Mitte aus gesehen, viel weiter weg als eine halbstündige S-Bahn-Fahrt.

Der Kaiser’s ist längst verschwunden, der Bäcker ein Wettstudio. „Neuköllner Verhältnisse“ hat das mal jemand genannt, das trifft es ganz gut. Im vergangenen Jahr sind 750 Leistungsempfänger nach Spandau gezogen, verdrängt aus der Innenstadt in die Hochhaussiedlungen am Rande des Randes. Die Arbeitslosenquote liegt noch immer bei 15 Prozent. Doch ist diese Wahrheit, meine und die der Zahlen, nur eine. Denn diesen Spandau-Stolz, das Aufkleber-Selbstverständnis, etwas Besonderes zu sein, das gibt es noch immer. Draußen in der Einfamilienhausidylle Kladows genauso wie im Grau der Problemkiezplatte. Man muss es nur finden.

Ein Spaziergang durch Spandau

Anruf bei Ismael Öner, 33 Jahre alt, Diplom-Sozialarbeiter und der Mann mit dem Schlüssel zur Spandauer Nacht. Seit fast fünf Jahren öffnet er jeden Freitagabend, 21.30 Uhr, Sporthallen, um Jugendliche von der Straße zu holen, zumindest für ein paar Stunden. Öner ist das Gesicht des Projekts Mitternachtssport, aber vor allem ist er: Überzeugungsspandauer. „Du willst über Spandau reden, da kann ich dir eine Menge erzählen. Das ist meine Heimat.“ Wir treffen uns am nächsten Tag in der Altstadt. Wie früher in der Fußgängerzone. Dort, wo mal ein McDonald’s war und heute ein MäcGeiz Papp-Ostereier für 69 Cent verkauft. Öner trägt eine schwarze Trainingsjacke mit Streifen in den Farben Jamaikas, die zugleich die der kurdischen Flagge sind.

Die Jacke ist Ausdruck eines ausgeprägten Bewusstseins für Herkunft und Wurzeln, Stolz und Identität. Einer der ersten Öner-Sätze an diesem Morgen ist dann auch: „Ich bin ein Spandau-Nationalist.“ Er sagt ihn, während wir in seinem Auto sitzen, auf dem Weg nach Haselhorst.

Denn um sein Spandau erklären zu können, muss Ismael Öner in die ehemalige Kleinraumsiedlung am Pulvermühlenweg, im Volksmund der 60er Jahre nur „Mau-Mau-Siedlung“ genannt. Die Kampfzone der Asozialen. Früher standen hier Baracken für die Spätheimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg. Für die Flüchtlinge und Vertriebenen. In den Wohnungen, meist nicht mehr als 50 Quadratmeter groß, lebten Arbeiterfamilien, mit acht, manchmal dreizehn Kindern. Später kamen die Gastarbeiter dazu. Gastarbeiter wie Ismael Öners Vater Yilmaz, ein kurdischer Bauer. Einwanderung 1967. Eigentlich war er nur hierhergekommen, um für ein Stück Land zu sparen oder einen Traktor. Jedes Jahr hieß es: Nächsten Sommer geht es zurück. „Die Familie saß immer auf gepackten Koffern.“ 30 Jahre lang, zurück ging es nie. Die Heimat der Eltern wird für die Kinder zu einem merkwürdig fremden Ort, zu einer Dreitagereise mit dem Auto, in ein Land, in dem sie erst nur die Deutschländer sind, und später, nach der Eskalation des türkisch-kurdischen Konflikts 1984, die Kurden, unerwünschte Gäste.

In der Mau-Mau-Siedlung aber waren Öner und seine Geschwister fremd unter Fremden, anders unter anderen. Vielleicht ist das die Definition von Zuhause. Öner spricht über diese Zeit, über die Barackenkindheit, mit beschleunigter Stimme, als wäre Mau-Mau kein Stigma, sondern eine Auszeichnung, ein Titel nach einem Boxkampf über 15 Jahre.

Er parkt sein Auto im Grützmacherweg, steigt aus, schaut sich um, 360-Grad-Drehung, Ballhaus-Kamera. Die Baracken von damals wurden vor einigen Jahren abgerissen. Heute ist die Architektur moderner, auch die Wohnungen sind größer. Öner zeigt in Richtung Havel, ein glitzernder Strom am Ende der Straße: „Das war unser Mittelmeer.“ Die Siedlung war Abenteuerspielplatz und Schutzraum, den die Mau-Mau-Kinder nur selten verlassen haben: „Manchmal sind wir aber, um eine andere Welt zu sehen, mit dem 134er raus nach Kladow gefahren“, sagt Öner. Er erinnert sich an diese Reise wie an eine Safari zu den Reichen und Schönen, spricht über Kladow wie andere über Beverly Hills: „Wir sind da durch die Straßen gelaufen und haben uns immer gesagt, so ein Haus, so ein Auto haben wir später auch mal.“ Er nennt Kladow noch immer, wenn auch halb im Spaß, „die Bonzengegend“. Sie liegt eine halbe Stunde entfernt von Ismael Öners Kindheit. Hinter dem Ortsschild Gatow verebbt der Stadtlärm. Landstadt-Idylle. Rieselfelder und Reihenhäuser. Das Suburbia der Arztfrauen und Ponytöchter, Geigenstunden auf Teakterrassen. Eine andere Welt.

Geringschätzung und Respekt: "Ein anderes Völkchen"

Hier, hinter einem gusseisernen Tor mit gelb leuchtendem Wappen, liegt der Golfclub Gatow. Auch ein Spielplatz, nur mit etwas weniger Abenteuer. Vor dem Clubhaus, gutbürgerliches Weiß in einer gutbürgerlichen Morgensonne, wartet Friedemann Fenner, 63 Jahre alt, ehemaliger Rektor einer Realschule in Siemensstadt, auf seine traditionelle Sonntagsrunde. Nach und nach treten auf: ein feingliedriger Psychologe, ein Apotheker mit Schweißerbrille, ein Eisenwarenhändler mit einem Putter in der Größe eines Besens. 18 Löcher. Seniorengolf. Fenner, weißes Haar unter bunter Deutschland-Mütze, Sportlehrer-Gestik, schaut prüfend in einen wolkenlosen Himmel. Kurzes Nicken. Kann losgehen.

Außer den vier Männern ist um diese Uhrzeit noch kaum jemand zu sehen. Es herrscht die nahezu tonlose Idylle eines geräumten Centerparks. Am Abschlag zum sechsten Loch schaut man von einer leichten Anhöhe in ein sattgrünes Tal mit künstlich angelegtem Weiher. Fenner schlägt den Ball ins Wasser. Von der Seite kommt die Frage, unweigerlicher Golfer-Schmäh, so routiniert wie das Spiel auf dem Vorgrün: „Taucht der was?“ „Ja, der taucht was.“ Achselzucken. Solche Tage gibt es eben. Golf ist vor allem ein mentaler Hochleistungssport. Dafür hat Fenner jetzt, während die anderen vorlaufen, genug Zeit, um über sein Spandau zu sprechen. Er ist ja auch einer dieser Ur-Spandauer, sechs Jahrzehnte schon, die von hier nie wirklich weggegangen sind, weil sie auch gar nicht wüssten, warum. Na gut, er hat mal zehn Jahre in Wannsee gewohnt, aber das liegt auch nur zwei Driver-Schläge entfernt auf der anderen Seite des Sees. Jetzt lebt er wieder in Gatow: Spandau, das taucht was. Deshalb, berechtigte Frage: „Wo soll ich denn auch sonst hin?“ In Mitte oder Kreuzberg will Fenner nicht wohnen, da würde ihm all das hier fehlen. Das Wasser, der Wald. Aber auch dieses angenehme Wissen, nah dran zu sein am urbanen Pulsschlag. Und gleichzeitig doch weit genug weg, um sich nicht anzustecken, mit der Rastlosigkeit, dem Szene-Irrsinn. In diesem Bezirk, in den letztendlich nur drei Straßen hineinführen, ist das im Grunde ein zutiefst gallisches Gefühl. Wir hier, die dort.

Spandau, das hat immer schon ohne Berlin funktioniert. Und ist deshalb für die Älteren, die Alteingesessenen, vor allem ein Mosaik aus Erinnerungen an einen geschlossenen, hauptstadtautarken Mikrokosmos. Café Breakfast, Billard in der Wampe, Nächte im Jet Power, Die Ärzte im Ballhaus, Beach Boys an der Bürgerablage. Berlin bei Spandau. Da ist was Wahres dran. Und deshalb sagt der Ur-Spandauer Fenner jetzt auch einen wunderbaren Ur-Spandauer-Satz: „Wenn die Berliner sagen, wir wären ein anderes Völkchen, dann ist das gleichzeitig Geringschätzung und Respekt.“

Mittlerweile hat er die anderen eingeholt. Er will jetzt eigentlich noch ein paar Dinge erzählen. Über Spandau und die Probleme des Bezirks, die er als ehemaliger Lehrer ja kennt. Aber daraus wird nichts. Denn zur Golfplatz-Etikette gehört nicht zuletzt das Schweigen im Walde. Der feingliedrige Psychologe bittet um Ruhe. „Seniorengolf“, sagt Fenner, „ist immer auch Muppetshow.“

Wir setzen unser Gespräch drei Stunden später fort, auf der Terrasse vor dem Clubhaus. Neunzehntes Loch. Es ist voll geworden. An den Nachbartischen trinken kurzhaarige Frauen, stilecht in Burberry gehüllt, Sekt-Aperol und Weinschorle. Sie haben Hunde dabei. Oder Männer, die über ihren Hemden Merino-Pullunder tragen. Beliebte Kombination: Azur und Rosé. Ein Setting zwischen Ausflugsdampfer auf der Havel und Après-Ski in Kitzbühel. Fenner bestellt einen Kaffee.

„Ich bewege mich ja auch viel in Spandau“, sagt er, als gelte es, noch einmal klarzustellen, dass das hier, Gatow, Golfplatz, kein Leben in der Heile-Welt-Blase ist. Für die Fehlsicht eines Wald-und-Wiesen-Romantikers kennt er den Bezirk auch einfach zu gut. Aus der Schule, aus dem Alltag, der ja nicht einfach an der Heerstraße endet. Sein Spandau aber, da muss Fenner nicht lange überlegen, ist hier: „Weil ich mich dem anderen bewusst entziehe. Im Falkenhagener Feld oder so, da muss ich auch nicht mehr sein.“

Und dann, zum Abschluss quasi, Strich drunter, fasst er die beiden Seiten Spandaus noch mal aus seiner Sicht zusammen: „Wenn ich unten an der Imchenallee an der Anlegestelle sitze und ein Weißbier trinke, das ist wie Urlaub.“ Er wartet kurz, am Nebentisch wird lautstark klarer Schnaps bestellt. Es ist halb drei. Ein bisschen Tui-Urlaubsfeeling auch hier. „Aber wenn ich Freitag um 22 Uhr am Rathaus Spandau stehe, bin ich doch froh, wenn ich heil wieder wegkomme.“

Freitag um 22 Uhr stehe ich mit Ismael Öner, drei Busstationen hinter dem Rathaus Spandau, in der Sporthalle der Bertolt-Brecht-Oberschule und warte auf den Beginn eines Turniers, das Öner einmal selbst die „Champions League der Intensivtäter“ genannt hat. Die Halle vibriert unter einem Medley aus Stimmengewirr und krachender Hartplatzakustik. Aus einem Ghettoblaster dröhnen Gangsterrap-Bässe. Azad, Fler, Neue Deutsche Welle. Etwa hundert Jugendliche sind an diesem Abend zum Mitternachtssport gekommen. Eine bunte Mischung. Deutsche in Bayern-Trikots, Türken mit Messi-Schriftzug auf dem Rücken, Araber in Oranje. Öner kennt sie alle, die Namen, die zersplitterten Lebensläufe. Und wenn einer neu dabei ist, kennt er, ganz sicher, dessen Vater, Onkel, Bruder. Sie nennen ihn „Issi abi“, den großen Bruder: „Für die Jungs bin ich real, authentisch. Weil ich hier in dem Milieu arbeite, dem ich selbst entstamme.“

Da ist es wieder, das Ding mit der Herkunft, der Identität. Es überrascht dann auch kaum, dass das Projekt seine Wurzeln in der Mau-Mau-Siedlung hat. Damals bekamen Öner und seine Freunde von Ralle, dem Hausmeister, für zwei Dosen Bier den Schlüssel zur Halle des OSZ Energietechnik. Damit waren sie die Könige im Wohngebiet. Und konnten gleichzeitig keine „Action“ machen, wie er das nennt: „Deshalb war es für mich immer klar, dass ich das hier machen will, in Spandau“, sagt Ismael Öner. „Ich wollte dem Bezirk etwas zurückgeben.“

Fußball und Spandau, das hat auch für mich immer zusammengehört. Deshalb spiele ich an diesem Abend mit. Meine Mannschaft, eine türkisch-kurdisch-arabisch-spandauer Weltauswahl, erreicht, mit etwas Glück, das Endspiel, das wir, mit etwas weniger Glück, knapp verlieren. Dennoch fühlt es sich an wie früher. Dieselben Sprüche, dieselben Gebärden. Aber dafür, dass die Scorerliste der Jungs hier in erster Linie von der Polizei geführt wird, bleibt es verdammt ruhig. Keine besonderen Vorkommnisse. Um kurz nach eins verabschiede ich mich von Ismael Öner und nehme ein Taxi zurück nach Mitte. Auf der Heerstraße zeigt ein schmaler Pfeil in Richtung Berlin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false