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Prasident Donald Trump besichtigt die Trümmer nach tagelangen Ausschreitungen in Kenosha, Wisconsin.

© Mandel Ngan/ AFP

Wende in den Umfragen zur US-Wahl: Innenstädte brennen, Geschäfte werden geplündert – und Trump wittert seine Chance

Der Präsident schürt Chaos und Gewalt und empfiehlt sich dann in Kenosha als Garant von Law and Order. Schafft er so die Wiederwahl für eine zweite Amtszeit?

Donald Trump wittert seine Chance. Er kann die Wahl im November gewinnen. In den USA zeichnet sich ein Stimmungsumschwung ab. Die Bürger sehen die Bilder von radikalisierten Massenprotesten in vielen Städten: Innenstädte brennen, Geschäfte werden geplündert, Extremisten aus beiden Lagern schießen aufeinander, in Kenosha (Wisconsin), in Portland (Oregon) und anderswo.

Die Angst vor Chaos und Gewalt, vor dem Verlust der öffentlichen Ordnung und des Eigentums brennt vielen Wählern auf einmal stärker auf der Seele als die Angst vor Corona und der pandemiebedingten Wirtschaftskrise. Man sieht es in den Umfragen. Trump holt auf, sein Herausforderer Joe Biden fällt zurück.
Plötzlich ist der Ausgang der Wahl am 3. November wieder offen. Und Trump tut alles, um das Thema, das ihm die Chance zum Comeback eröffnet, in der Öffentlichkeit zu halten – und sei es durch Provokationen, wie sie sich kein Präsident vor ihm erlaubt hat. Er ruft seine Anhänger auf, die Straßen von der linken Protestbewegung zurückzuerobern.

Am Dienstag flog er nach Kenosha – aber nicht, um mit den Familien der Opfer zu trauern und die Einwohnerschaft zu Solidarität und Versöhnung aufzurufen. Trump reiste hin, um die Konfrontation anzuheizen. Er besichtigte Gebäuderuinen nach den tagelangen Ausschreitungen. Er drohte, auch gegen den Willen des Bürgermeisters Sicherheitskräfte hinzuschicken. „Da muss man entschlossen reagieren, hart und stark. Und bereit sein, zusätzliche Kräfte einzusetzen“, sagte er bei einer Begegnung mit Polizisten. Und er erklärt die Unruhen zu einem Fall von "inländischem Terrorismus".

Warum kippt die Stimmung?

Am Dienstag vergangener Woche hatte dort ein Polizist einen schwarzen Familienvater sieben Mal in den Rücken geschossen. Daraufhin gab es Massenproteste. Häuser und Autos brannten. Es bildete sich eine Gegenbewegung, die die Verteidigung der öffentlichen Ordnung in die eigene Hand nehmen möchte. Einer der Bürgerwehraktivisten, Kyle R., 17 Jahre alt, erschoss zwei Demonstranten. War es Mord oder Notwehr, wie sein Anwalt behauptet?

Trump äußert vor der Abreise nach Kenosha Verständnis für den jungen Mann, der wegen Mord angeklagt wird. Er sei wohl in sehr großer Not gewesen und habe fürchten müssen, getötet zu werden. Wann zuvor hat ein Präsident derart in ein laufendes Ermittlungsverfahren eingegriffen?

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In den Monaten zuvor schiene es so, als sei die Wahl gelaufen. Als kämpfe der Präsident gegen übermächtige Kräfte an: die Coronapandemie mit einer erschreckend hohen Zahl von Toten und Infizierten, auch im internationalen Vergleich. Sowie gegen die nachfolgende Rezession, die Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner den Job kostete. Sie raubte Trump das bis dahin wichtigste Argument für eine zweite Amtszeit: dass die Wirtschaft unter ihm besser laufe als unter den Demokraten, zumal die höhere Steuern und schärfere Umweltauflagen planten.

Wie entwickeln sich die Umfragen?

In den ersten Wochen nach Ausbruch der Coronapandemie lag Trump in Schlagdistanz zu Biden : Anfang Mai rangierte er vier bis fünf Prozentpunkten hinter ihm, das entspricht ungefähr der statistischen Fehlerquote der Umfragen. Diesen Abstand, das traute er sich zu, würde er in einem Schlussspurt im Herbst wettmachen können. 2016 war ihm das ja auch gelungen, als die meisten einen Sieg Hillary Clintons erwarteten.

[Mehr zum Thema: Lesen Sie hier, wie Trump „Patrioten“ zum Kampf gegen das „Chaos“ mobilisiert.]
Doch seit Mai ging es für Trump erstmal weiter abwärts. Biden baute den Vorsprung aus, auf zehn Prozentpunkte im Schnitt der landesweiten Umfragen Ende Juni. Im Juli lag Biden fast durchweg neun Prozentpunkte vor Trump. Und Mitte August, als die Demokraten ihren Parteitag abhielten, 7,7 Prozentpunkte. Es folgte der Republikanische Parteitag. Inzwischen ist Bidens Vorsprung auf sechs Prozentpunkte geschrumpft.

Sechs Prozentpunkte Vorsprung landesweit wirken immer noch wie ein bequemes Polster, jedenfalls für das so genannte „Popular Vote“: Biden würde, wenn das Stimmenverhältnis in etwa so bleibt, landesweit um die fünf bis sechs Millionen Stimmen mehr erhalten als Trump. Im US-Wahlsystem wird jedoch nicht derjenige Präsident, der landesweit die meisten Stimmen erhält. Präsident wird, wer die Mehrheit im „Electoral College“ hat, dem Gremium der aus den 50 Bundesstaaten entsandten Wahlmänner.

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Jeder der 50 Bundesstaaten wird einzeln ausgezählt. Und dem Sieger dort wird der ganze Staat zugerechnet, egal ob er ihn knapp oder hoch gewinnt. Jeder Staat hat entsprechend seiner Einwohnerzahl eine festgelegte Zahl von Wahlmännern. Insgesamt sind es 538. Präsident wird, wer die absolute Mehrheit, also mindestens 270 auf sich vereinigt.

Was tut sich in den „Battleground States“?

In den meisten der 50 Bundesstaaten sind die Mehrheiten klar verteilt, sie wählen verlässlich die Demokraten oder die Republikaner. Deshalb hängt der Wahlausgang von wenigen so genannten „Swing States“ ab, die mal mehrheitlich blau (Demokraten), mal mehrheitlich rot (Republikaner) stimmen. Da sich der Kampf um sie dreht, nennt man sie auch „Battleground States“. 2020 stechen sechs heraus: Michigan, Pennsylvania und Wisconsin im Norden an den Großen Seen; sie gaben schon 2016 den Ausschlag für Trumps Sieg. Sowie im Süden Arizona, Florida und North Carolina.

Man könnte weitere aufzählen: Ohio und Iowa, die einige Demoskopen bereits zu Trump trenden nsehen, sowie New Hampshire - doch die Augen der Demoskopen in den USA richten sich auf diese sechs. Aus der Entwicklung der Umfragen in diesen sechs Staaten kann Trump Hoffnung schöpfen. Ende Juni lag er hier im Schnitt der Umfragen 6,2 Prozentpunkte hinter Biden. Jetzt sind es nur noch 2,7 Prozentpunkte. Dank der Bilder von der Gewalt in den Städten, die zumeist demokratische Bürgermeister und Gemeinderäte mit demokratischer Mehrheit haben, hat er mehr als die Hälfte des Rückstands in den „Battleground States“ wettgemacht.

In den umkämpften Staaten geht es um 101 Wahlmännerstimmen

Wenn dieser Trend anhält, rückt ein Wahlsieg für Trump in greifbare Nähe – ganz real, ohne Manipulationsversuche wie die Drohung, die Rechtmäßigkeit von Briefwahlstimmen anzuzweifeln. Es genügt, die Angst vor Chaos, Gewalt und vor dem Verlust staatlicher Kontrolle über die öffentliche Ordnung zu schüren, dann könnte die Stimmung vollends kippen. Eine solche Wahlkampfführung kann man als schmutzig und verantwortungslos bewerten. Sie kann aber zu Trumps Sieg führen.

Nimmt man alle regionalen Umfragen für die 50 Bundesstaaten zum aktuellen Nennwert, würde Biden nicht nur das „Popular Vote“ klar gewinnen, sondern auch nach Wahlmännern: 337 zu 201. Doch da sind einige Staaten mit einem nur knappen Vorsprung Bidens dabei. Nimmt man die sechs „Battlegrounds“ mit ihren zusammen 101 Wahlmännerstimmen aus der Gleichung heraus, steht es 251 zu 186 Wahlmännern zu Gunsten Bidens. Keiner von beiden hat die 270 Wahlmännerstimmen sicher.

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Biden hat die leichtere Aufgabe. Er braucht nur einen großen oder zwei kleine der sechs Staaten zu gewinnen, dann ist er am Ziel. Trump hingegen muss mindestens fünf der sechs gewinnen und er darf weder Florida noch Pennsylvania verlieren. Sein Weg zur zweiten Amtszeit ist schwieriger, aber er ist möglich.

Mit welchen Parolen wirbt Trump?

Trump hat sich ganz auf diese Botschaft verlegt: Die Demokraten sind von Radikalen unterwandert. Sie machen gemeinsame Sache mit Brandstiftern und Mördern. Sie wollen die Polizei entwaffnen und ihr durch „Defunding“, den Entzug von Geld, die Möglichkeit nehmen, die öffentliche Ordnung zu schützen. Biden tue zwar so, als sei er ein moderater Mann der Mitte. Aber er sei alt und schwach und willenlos und werde zum wehrlosen Werkzeug der Radikalen, behauptete Trump am Dienstag im Interview mit dem rechten Sender Fox News.

Er selbst sei das Gegenteil, sagt Trump: energiegeladen. Mit klaren Vorstellungen, was er erreichen will. Und der einzige Rückhalt, der in dieser gefährlichen Lage die öffentliche Ordnung garantieren und das Eigentum rechtschaffener Bürger vor einem linken Mob schützen kann. Kurzum: Der Brandstifter preist sich als Feuerwehrmann an.

Wie antwortet Biden?

Joe Biden und die Demokraten sehen die Gefahr, dass Trump mit dem Schüren der Furcht vor Anarchie die Stimmung in der Wählerschaft wenden und zudem die Anhänger der Demokraten in zwei Gruppen spalten kann: in Parteigänger der Protestbewegung um „Black Lives Matter“ und in moderate Demokraten, die eine Radikalisierung der Proteste ablehnen. Er flog am Montag nach Pittsburgh, Pennsylvania, um in der Stadt, die einst für gute Jobs in der Kohle- und Stahlindustrie stand, um die Stimmen von Arbeitern zu werben. Der Demokrat distanzierte sich einerseits von den Ausschreitungen bei den Protesten und gab andererseits Trump die Schuld an der Eskalation der Gewalt.

Aufruhr, Plündern und Brandstiftung seien keine legitimen Proteste, betonte Biden. So ein Verhalten sei Rechtsbruch. Wer es tue, gehöre hinter Gitter. „Ihr kennt mich. Ihr kennt meine Lebensgeschichte. Ihr kennt meine Familie. Fragt euch selbst: Sehe ich aus wie ein radikaler Sozialist, der ein weiches Herz für Plünderer hat?“

Auch Biden greift zu harten Worten: Trump sei „eine giftige Gestalt“. Der Präsident säe Gewalt, statt sie zu bekämpfen. Trump sei nicht in der Lage, das Land zu befrieden. Genauso wenig, wie es ihm gelungen sei, die Bürger vor Corona zu schützen. Die Ausschreitungen könne man nicht den Demokraten in die Schuhe schieben. Sie geschehen, während Donald Trump Präsident ist und die Verantwortung für die Nation trägt.

Anmerkung der Redaktion: Eine frühere Version des Textes enthielt eine fehlerhafte Grafik zu den Wahlmännern mit einer falschen Zuordnung zu Trump und Biden.  Dies haben wir nun korrigiert.

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