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Berlin: Wenn geliebte Menschen zur Last werden

Die häusliche Pflege überfordert viele Angehörige Der familiäre Druck entlädt sich oft in Gewalt

Oft saß er nur so da, im bequemen Ohrensessel. Schon das war schwer zu ertragen. Karin Goetze (Name geändert) pflegt ihren Mann, der vor zwei Jahren einen Schlaganfall erlitten hat. Fast wäre sie an dieser Aufgabe zerbrochen. „Ich war hilflos, überfordert, total erschöpft“, sagt die Buchhändlerin. Sie wollte mit ihrem Mann reden, wie früher, mit ihm streiten, warum er nicht vorgesorgt hatte für den Fall, der jetzt eingetreten war. „Ich war wütend auf ihn“, aber er saß nur da, konnte nicht sprechen.

Ihr Partner war jetzt auch ihr Patient. Sie sollte mit ihm die Buchstaben üben, M wie Muh, aber er sagte immer wieder Kuh. Muh! Muh! Muh! Ihre Gedanken spitzten sich zu einem gefährlichen Stachel. Warum sagst du nicht Muh? Sie brach die Sprechübungen ab. Ein anderes Mal hatte sie den Kaffeetisch gedeckt, hielt die Kanne zum Gießen bereit, bat um seine Tasse. Aber er wusste nicht, welchen Gegenstand sie meinte. Na, die Tasse! Für den Tee! Sie konnte ihre Aggression nicht mehr bändigen, goss den heißen Tee auf den Tisch. Er sah sie erschrocken an.

Zu direkten Gewaltausbrüchen gegen ihren Mann, verbal oder physisch, ist es nicht gekommen, aber manchmal war es knapp davor. Karin Goetze bekam Hilfe, von der Familie, von Freunden, von einer Neuropsychologin, von anderen Betroffenen. Ohne diese Unterstützung, die vielen Gespräche, hätte sie die Krisenphase nicht durchgestanden, sagt sie.

Doch oft passiert auch Schlimmeres: 600 000 pflegebedürftige Menschen in Deutschland werden jedes Jahr Opfer von Gewalt. Das sind Schätzungen, denn die meisten Fälle bleiben in der Anonymität. Mit dem gestrigen Internationalen Aktionstag gegen Gewalt in der Pflege sollte auf das bislang tabuisierte Thema aufmerksam gemacht werden. Physische Misshandlungen sind relativ selten, verbale Aggressionen, Beleidigungen und Gewalt durch Vernachlässigung oder Freiheitsentzug sollen dagegen in Pflegeheimen und vor allem in der häuslichen Pflege häufiger vorkommen. „Zu Hause spielen sich die größten Dramen ab“, sagt Gabriele Tammen-Parr von der Berliner Beratungsstelle „Pflege in Not“. 150 Anrufe gehen jeden Monat in der Beratungsstelle ein.

Meistens melden sich die Pfleger, Töchter oder Ehefrauen. Es geht dann um kleine Tätlichkeiten wie An-den-Haaren-Reißen, weil sich die Mutter nicht mehr waschen will. Manchmal sind es nur kleine Spitzen, die einen heftigen Streit auslösen: „Na, kommst du auch mal wieder vorbei ...“ In solchen Konflikten seien Opfer und Täter nicht eindeutig auszumachen. „Das wechselt manchmal jeden Tag. Die Pflege wird oft zur Plattform, auf der alte Familienkonflikte ausgetragen werden“, sagt Tammen-Parr. Zwischen Ehepartnern führe die Pflegesituation oft zu Konflikten, weil die Lebensplanung zerbrochen sei und die eingespielten Rollen nicht mehr funktionierten. In einem Fall schlug ein Mann seine pflegebedürftige Frau mit dem Hausschuh, weil sie von ihm bedient werden wollte, obwohl sie bestimmte Dinge selbst erledigen konnte. Tammen-Parr fand heraus, dass die Frau sich von ihrem Mann für jahrzehntelange Hausarbeit „entschädigen“ ließ.

Ilse Biberti, Regisseurin und Schauspielerin, hat selber Gewalt erfahren, durch ihren alzheimerkranken Vater, den sie pflegt. Um ihre Aufmerksamkeit nicht zu verlieren, habe er ihr „gezielt Gemeinheiten gesagt“. Als es unerträglich wurde, schlug sie mit einem Holzlöffel auf die Spüle: „Ich meinte natürlich ihn dabei“, sagt sie. Nach diesem Vorfall nahm sie 14 Tage Auszeit.

Die wenigsten Gewaltfälle in der Pflege kommen zur Anzeige, dennoch: Delikte in der Pflege nehmen zu, erklärt Polizeisprecher Michael Merkle. Oft gehe es um „Pflegeschäden“, also das Wundliegen und mangelnde Hygiene. „Fesselungen“ am Bett sind ebenfalls strafbar. Viele Opfer fühlten sich machtlos und wüssten keinen Ansprechpartner. Angehörige zu pflegen sei eine „wahnsinnige Herausforderung“, sagt Gabriele Tammen-Parr, und niemand müsse sich schämen, wenn er daran scheitere.

Karin Goetze hat sich inzwischen von dem inneren Zwang befreit, nur noch für ihren Mann da zu sein. Gerade ist sie von einem einwöchigen Urlaub zurück. Ihr Mann war für die Zeit in einem Pflegeheim untergebracht. Thomas Loy

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