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Berlin: Wer vor dem Glashaus sitzt

Seit Monaten ertragen die Mieter in der Rathausstraße Baulärm. Nebenan wird eine durchsichtige Parkgarage für die neuen Passagen gebaut

Jutta Schmidt steht am Eingang Rathausstraße 7. Sie wohnt hier. Der Plattenbau gehört zu den „Rathauspassagen“. Ein Pressluftbohrer lärmt Ohren betäubend hinter den Bauzäunen. Jutta Schmidt kann sich mit ihrer Nachbarin nur schreiend unterhalten. Aber beide sehen es gelassen. „Es war schon schlimmer“, sagt Jutta Schmidt im Hausflur. Außerdem gebe es ja Mietminderung. Um knapp 25 Prozent.

Jutta Schmidt gehört zu den 360 Haushalten, die seit rund einem Jahr mit viel Lärm leben müssen. Ihre Wohnung ist direkt über der Passagenbaustelle. Sie freut sich, dass sie nicht nach hinten wohnt, mit Sicht auf die Grunerstraße. „Den Mietern dort haben sie die Aussicht verbaut.“ Und zwar mit einem stählernen, haushohen Skelett, das aussieht wie ein überdimensionales Ikea-Lagerregal. Es ist das Gerippe einer Brückenkonstruktion, die bis zum Dezember Teil eines verglasten Parkhauses für 600 Autos werden soll. Wie das mal aussehen soll, können sich die Mieter noch nicht vorstellen.

Architekt Michael Kny vom Büro Kny & Weber erklärt, warum an der Grunerstraße ein ungewöhnliches Brückenhaus gebaut wird. Das künftige Parkhaus liegt nämlich unmittelbar über der U-Bahnlinie 2, die tief unten im Boden zur Klosterstraße abbiegt. Die U-Bahn-Wände könnten die Lasten eines großen Hauses nicht tragen, sie würden eingedrückt werden. Deshalb die Brückenkonstruktionen. Dabei verteilen sich die Lasten auf Stützen, die neben der U-Bahn gebaut worden sind. Direkt oberhalb der Bahntrasse bleibt aber kein Freiraum. Dort entstehen Geschäfte, die im Vergleich zu den Lasten eines Parkhauses samt Inhalt nur Fliegengewichte sind: zum Beispiel mehrere Läden. Zur Rathausstraße hin richtet sich die amerikanische Supermarktkette Wal Mart ein.

Anfangs hieß es, die Rathauspassagen würden Ende September fertig. Aber der Winter hat die Bauarbeiten verzögert, wie Falk Jesch, Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, sagt. Deshalb sei mit der Eröffnung der Rathauspassagen nun Januar oder Februar 2004 zu rechnen. Damit sei leider auch das von den neuen Geschäftsmietern erhoffte Weihnachtsgeschäft geplatzt.

Die Rathauspassagen wurden 1969 direkt neben dem Roten Rathaus errichtet. Sie gehörten zu den besten Adressen Ost-Berlins fürs Wohnen und Einkaufen. Seit gut einem Jahr werden sie nun umgebaut. Dabei werden die Untergeschosse bis auf die tragenden Wände komplett erneuert. Für 63 Millionen Euro entstehen an der hinteren Ecke zum Rathaus ein Einkaufszentrum, zwei Parkhäuser, eines verglast, und ein Bürogebäude. Die Neubauten sollen der Grunerstraße eine neue, engere Fassung geben. Weithin sichtbar ragt das erste Stahlgerippe in die gewohnte Straßenflucht, fünf Kräne schwenken über den Passagen ihre Lasten. Im vorigen Sommer hatten die Mieter viel zu erdulden, als Vordächer, Wände und Böden der einstigen Geschäfte eingerissen wurden. Wie eine Mondlandschaft sahen die unteren Etagen aus, allmählich sind Betonwände gezogen, neue Konturen sichtbar. Die Ärzte und Patienten in den Praxen des zweiten Obergeschosses ertragen die Unannehmlichkeiten mit Galgenhumor. Wenn wieder mal ein Bohrer den Boden erzittern lässt, heißt es bei Allgemeinmediziner Horst Reichel, es gebe „Fußreflexzonenmassage“.

Christian van Lessen

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