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Berlin: Werner Sellhorn (Geb. 1930)

Das Publikum ist begeistert, die Funktionäre nicht.

Von David Ensikat

Möglicherweise bedarf es einer bestimmten Größe, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Möglicherweise waren die DDR und ihre Urteilsbildner in Sachen Jazzmusik einfach zu klein. Es ist da keine klare Linie auszumachen. War man in den 50er Jahren noch der Meinung, der Jazz sei ein US-imperialistischer Trick, die revolutionären Massen in ein konterrevolutionär rhythmisches Zucken zu versetzen, waren die 60er von einer Indifferenz geprägt: Inzwischen waren Beat und Rock weitaus attraktiver und also gefährlicher. In den 70ern und 80ern kam es schließlich zur Umarmung: Die Wurzeln der Jazzmusik lagen nunmehr bei den „unterdrückten Negern“, sie waren mithin antiimperialistisch, Jazzmusiker erhielten Preise und Medaillen, einige sogar die Erlaubnis, in den Westen zu fahren.

Werner Sellhorn war zwar kein sehr großer Mann, doch sein Interesse für die Musik sowie sein Selbstbewusstsein waren für ein sicheres Urteil groß genug. Von den 50er Jahren an bis zu seinem Tod widmete er sich dem Jazz, wurde hin und wieder als Musikwissenschaftler bezeichnet, was er niemals war, spielte kein einziges Instrument und stellte sich dennoch oft und gern auf Bühnen, um die Musik anzukündigen und zu erklären. Und er veranstaltete Konzerte, die wahrscheinlich wichtigsten, tatsächlich legendären Jazzkonzerte in den sechziger Jahren, so wichtig und legendär, dass man sie alsbald verbot. Doch dazu später.

Zunächst einmal ist da der junge Werner in der jungen DDR, der Schlager mag und überhaupt die Platten aus dem Westen, und dessen Jazz-Leidenschaft nicht etwa ein Konzert erweckt oder eine Tonaufnahme – sondern ein Buch. Das „Jazzbuch“ von Joachim-Ernst Behrendt bringt die Musik in eine wunderbare Systematik, logisch folgerichtig, erklärbar, letztlich sammelbar. Denn das ist das Entscheidende für Werner Sellhorn: das Aneignen im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Er hört ab jetzt jede Jazzsendung im West-Radio, leiht sich West- Platten aus, denn West-Mark hat er nicht, überspielt sie auf Tonband, systematisiert, katalogisiert, beschafft den gesamten Rest seines Lebens lang Tonträger – auch um sie zu hören, aber mindestens so sehr, um sie zu haben und zu zeigen. Werner Sellhorns Jazz-Sammlung ist gewiss die vollständigste des Landes, in dem das Sammeln sehr viel mehr ein Jagen ist als irgendwo im Westen.

Doch wie soll die Musik für den Nicht- Musiker mehr sein als ein Hobby? Da ist es schon wahrscheinlicher, dass aus der politischen Überzeugung ein Beruf wird. Sozialismus, Kommunismus, Werner Sellhorn ist dafür, und folgerichtig studiert er die Wissenschaft von ihrer Zwangsläufigkeit, Philosophie im DDR-Maßstab.

Weil er seine Abschlussarbeit nicht pünktlich fertigbringt, und weil die Genossen auch sonst Zweifel haben an seiner Zuverlässigkeit, versetzen sie ihn zur Bewährung für ein Jahr „in die Produktion“. Er arbeitet im Kabelwerk Oberspree, und weil man ihm hinterher noch immer nicht traut, erhält er auf alle seine Bewerbungsschreiben Absagen sowie den Hinweis, er möge noch einmal ans Fließband, diesmal zu „Stern-Radio“ nach Weißensee. Dort, so wird er später erzählen, mögen sie ihn, nur ist er niemals pünktlich. Spätestens beim Frühaufstehen zeigt sich die Entfremdung zwischen Werner Sellhorn und der herrschenden Arbeiterklasse.

Er schlägt sich durch mit Kursen an der Volkshochschule und Konzertveranstaltungen, er erhält für ein paar Jahre Festanstellungen bei Verlagen. Bei einem ist er für die Werbung zuständig – und da kommt ihm die Idee: Warum soll man nicht Jazz und Lesung kombinieren? „Jazz Lyrik Prosa“ nennt er die Veranstaltungsreihe, da singt Manfred Krug und manchmal, wenn er nicht gerade verboten ist, Wolf Biermann. Schauspieler tragen kurze Texte und Gedichte vor. Die Sache ist so frisch, so gut gelaunt, manchmal satirisch, wie man es in der DDR kaum kennt. Das Publikum ist begeistert, die Funktionäre nicht, und Werner Sellhorn ist ein wichtiger Mann.

Er lebt in einem Land, in dem so mancher für sein Wichtigsein einen allzu hohen Preis zu zahlen hat. Ein misstrauisches Land, das wissen will, was seine Bürger denken, vor allem die Wichtigen und ihre Freunde. Ende der 50er Jahre und in den 70ern noch mal erstattet Werner Sellhorn Bericht. Er rechtfertigt das vor sich und sehr viel später auch vor anderen nach dem üblichen Muster: Denen da oben muss doch jemand Bescheid geben, sonst tun sie nur Unfug.

Immerhin ist Sellhorn einer von jenen, die aus dem Schlamassel herausgeraten – durch Unzuverlässigkeit und auch durch Frauen. Zwei seiner etlichen haben es ganz klar gesagt: Mach mit der Stasi Schluss oder ich mit dir.

Da die DDR den Kampf gegen die Musik, die aus dem Westen kam, aufgeben muss, gelingt Werner Sellhorn irgendwann ein erstaunlich unabhängiges und gutes Leben. Er stellt Jazzaufnahmen für die Plattenfirma Amiga zusammen, kümmert sich um Konzerte, sagt an und tingelt durch Kulturhäuser. Er hält gut bezahlte Vorträge vor einem dankbaren Publikum, nicht zuletzt dankbar dafür, dass er ihm Westschallplatten vorspielt. Er kennt Leute, die ihm alle Platten, die er will, beschaffen können, für viel Geld.

Als die Mauer fällt, braucht er diese Leute nicht mehr. Aber sein Publikum von einst braucht ihn nun ebenso wenig. Das Lebens- und Geschäftsmodell Westmusikvermittler funktioniert nicht mehr. Dafür kann er seine Sammlung mehren, leichter als bisher. Das „Jazzbuch“ erschien in vielen Auflagen. Er besitzt sie allesamt. David Ensikat

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