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Beste Aussichten. Auf dem Wasserturm in Dahlem hat Petra Gebauer einen wunderbaren Blick auf die Dächer von Berlin.

© Kitty Kleist-Heinrich

Wetterbeobachtung in Berlin-Steglitz: Wo der Himmel vermessen wird

Das Berliner Wetter steht unter allerschärfster Beobachtung. Im Dahlemer Wasserturm sind Meteorologen im Einsatz, an 365 Tagen im Jahr.

Laura hat die Bühne kaum verlassen, als von der Nordsee schon Mirja heranstürmt. Während die Wetterdienste in Mitteleuropa gerade vor Mirjas Böen warnen, betrachtet oben im gut geheizten Dahlemer Wasserturm der diensthabende Meteorologe seine Isobarenkarten und sagt zu Petra Gebauer: „Spätestens morgen können wir Nannette taufen.“ Dazu deutet er auf ein noch namenloses Tief, das sich vor Neufundland bildet – irgendwo über dem Nordatlantik, wo niemand wohnt und das Wetter immer ungemütlich ist.

Laut den ausgedruckten Vorhersagekarten, die wie eine tägliche neue Tapete um den Computerbildschirm herumgeklebt werden, wird dieser Tiefdruckembryo sich morgen Island nähern und bei weiter fallendem Luftdruck Kurs Richtung Ärmelkanal nehmen, sodass es in drei Tagen von der Normandie bis zu den Niederlanden ordentlich rappelt; vielleicht auch bei uns. Die echte Nannette wird es später ganz genau erfahren, so viel ist sicher.

„Hier sitzt an 365 Tagen im Jahr jemand und analysiert die Karten“, sagt Petra Gebauer. Das Resultat ist die „Berliner Wetterkarte“, montags bis freitags inklusive Wochenend-Resümee, per Post oder als Mailanhang, erstmals erschienen am Freitag, dem 1. Oktober 1952, und seitdem an keinem Tag ausgefallen. Auf dem Titel die tagesaktuelle Mittagskarte; Mitteleuropa etwa von der Maas bis an die Memel mit Frontverläufen, warm oder kalt, mit Hochs und Tiefs, Temperaturen, Wind und Niederschlag. Im Innenteil die Luftdruckkarte für 5,5 Kilometer über dem Meeresspiegel, was etwa der halben Atmosphärenhöhe entspricht. Dazu ein Satellitenfoto der Wolken, Weltwetterübersicht, tagesaktuelle Umwelt- und Wetterdaten aus Berlin und Deutschland sowie die Vorhersagen deutscher und britischer Wettermodelle. Sie sind sich einig, dass aus Nannette was wird – nicht aber, was genau.

Etwa 500 Kunden haben dieses tägliche Potpourri für 13 Euro im Monat abonniert: 300 bekommen es per Post, 200 online. Privatleute, Meteorologen, Versicherungen, Unis, Schulen, das österreichische Bundesheer. Aber auch Baufirmen, die beispielsweise gefrorene Böden dokumentieren wollen, die sie am Arbeiten hindern.

Die Dahlemer Station ist die älteste Berliner Station mit durchgehender Datenreihe

Zum eingetragenen Verein ist die „Berliner Wetterkarte“ 1998 geworden, als organisatorische Probleme an der FU die tägliche Dokumentation zu gefährden schienen. Wenn sie das hier nun schon so lange machten, sollte es auch weitergehen, fanden die Meteorologen. Zumal das Wetter zu den wenigen Dingen gehört, die ewig währen, und „diese fertig aufbereitete Zusammenstellung mindestens europaweit einmalig“ sei, wie die Vereinsvorsitzende Petra Gebauer sagt.

Da der Verein mit dem Meteorologischen Institut der FU kooperiert, sei allenfalls das Geld knapp, aber nicht das Personal. Der Wetterturm ist rund um die Uhr besetzt. Nachts sind es meist Studenten, die Sicht, Bewölkung und Niederschlag dokumentieren. Eine Liste mit „Sichtmarken“ klebt im Nachbarraum am Fensterrahmen: Europa-Center 5,6 Kilometer, Kraftwerk Reuter 9,8, Windparks im Havelland 28 bis 30.

Beim eingetragenen Verein „Berliner Wetterkarte“ kann für 199 Euro eine Namenspatenschaft für ein Tiefdruckgebiet erworben werden.
Beim eingetragenen Verein „Berliner Wetterkarte“ kann für 199 Euro eine Namenspatenschaft für ein Tiefdruckgebiet erworben werden.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Wetterbeobachtungen gehen ein in den Datenberg, den die bundesweit etwa 200 Stationen des Deutschen Wetterdienstes täglich liefern. Längst nicht mehr alle sind noch mit Personal besetzt, aber gerade bei Art und Ausmaß von Bewölkung sowie dem Erkennen etwa von Schneegriesel sei die Technik noch nicht so gut wie der Mensch, sagt Petra Gebauer. Hinzu kommt, dass die Dahlemer Station nicht irgendeine ist, sondern die älteste mit durchgehender Datenreihe in Berlin. Zwar ist sie mehrfach umgezogen – Thermometer und Niederschlagsmesser stehen aktuell im Botanischen Garten in Lichterfelde –, aber es gibt eine valide Datenreihe seit 1908.

Zum Hundertjährigen kamen sie auf die Idee, die Daten zu veröffentlichen. Während der Arbeit kam als unerwartetes Geschenk der Nachlass eines Meteorologen hinzu, der Zeitungsartikel zu markanten Wetterereignissen gesammelt hatte: Geschichten über Blitzeis, Sturm, Schneechaos, Hitze. In diesem Frühjahr war es vollbracht und die erste Auflage der „Berliner Klimafibel“ fertig – mit den Wettertabellen aller Monate seit 1908, zusammenfassenden Texten und den Extremwerten bis 2015, die angesichts des Klimawandels besonders genau beobachtet werden.

Die Idee mit den Namen stammt aus den USA

Nachdem die ersten 80 Exemplare verkauft und vergeben waren, werden gerade die nächsten 80 gedruckt. Es sind vergleichsweise kleine Brötchen, aber mit aufwendigen Zutaten, die hier gebacken werden.

Um etwas mehr gebacken zu bekommen, werden eben auch Laura, Mirja und Nannette und wie sie alle heißen verkauft. 2016 sind die Tiefs weiblich und die Hochs männlich, nächstes Jahr ist es wieder umgekehrt. Tiefs kosten 199 Euro, Hochs 299. Der höhere Preis hat nicht unbedingt mit dem Wetter zu tun, sagt Petra Gebauer und erinnert an „Peter“, der uns mit seinem ewigen Hochnebel fast den kompletten Oktober vermasselt hat. Von Hochs habe man länger was, denn sie leben meist länger als Tiefs: Bei Hochs schaffen sie im Jahr etwa zwei Mal das Alphabet, bei Tiefs eher fünf Mal. Getauft wird nur, was für unser Wetter relevant wird.

Die Idee stammt aus den USA, wo Taifune und Hurrikans seit den 1940ern Namen erhalten. Die FU übernahm das Prinzip 1954 – und generiert über die Namenspatenschaften seit einigen Jahren gemeinsam mit dem Verein Geld für die Ausbildung der Studenten, die anschließend auch die Lebensgeschichte des Druckgebiets schreiben müssen. Aus Nannette ist immerhin ein Orkantief geworden, wenn auch kein ganz heftiges.

Wer Glück hat, wird berühmt wie Kyrill 2007. Der wohnt in Neuenhagen östlich von Berlin und hat die Namenspatenschaft für den späteren Orkan von seinen Kindern zum 65. geschenkt bekommen.

Für 2017 sind nur noch Restbuchstaben im Angebot, sodass es sich als Weihnachtsgeschenk nicht für jeden eignet. Seltene Buchstaben wie Q und X müssen immer mal wieder auf Ebay versteigert oder im Radio verlost werden. Ist es überhaupt spannend, sich so sehr mit dem Wetter im Rückblick zu beschäftigen statt mit der Prognose? „Wenn Bayern München gespielt hat, redet man doch hinterher auch drüber“, sagt der diensthabende Meteorologe, ohne den Blick von seinen Karten zu lösen. Und Wetter ist hier auf dem Turm in Dahlem eben immer erste Liga.

Infos zu den Patenschaften gibt es online unter www.wetterpate.de. Die „Berliner Klimafibel“ mit der Chronik seit 1908 ist für 19 Euro auch im Tagesspiegel-Shop im Verlagsgebäude (Askanischer Platz 3, am Anhalter Bahnhof) erhältlich: Mo-Fr, 9-18 Uhr.

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