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Berlin: Wie es ist, dick zu sein…

… und zu spät zu erfahren, dass es einen medizinischen Grund gibt. Über Frustfressen, Selbstbewusstsein und Gefühls-Achterbahnen. Ein Protokoll

Barbara Kuprella, 52, Krankenschwester, Ehefrau und Mutter, wiegt 101 Kilo auf 1,58 Meter. Erst vor einem Jahr hat man bei ihr eine chronische Fettgewebsstörung festgestellt – nach mehr als 30 Jahren Frust, Fressen, Fasten. Mit ihr sprach ChristineFelice Röhrs. Fotografiert werden wollte sie nicht.

Fast mein gesamtes Leben lang ist das Gewichtsproblem da gewesen. Wie ein Gespenst saß es irgendwo im Kopf, immer: beim Kleiderkaufen, beim Tanzen, beim Essen, im Bett. Immer hat es einen Teil meiner Energie abgezogen, einen Teil meiner Aufmerksamkeit.

Mit Beginn der Pubertät hatte es angefangen. Plötzlich wurde ich dick. Die anderen nicht. Keiner aus der Familie, obwohl ich aß wie die anderen. Meine Mutter hat gut gekocht. Und Riesenberge. Wir hatten nicht viel Geld, der Stiefvater war bei der AEG, die Mutter ungelernte Arbeiterin, mal Küchenhilfe im Chinarestaurant, mal woanders. Der einzige Luxus, den wir uns leisten konnten, war gutes Essen. Lange dachte ich, es habe nur daran gelegen, dass ich damals so zunahm. Als ich 17 war, wog ich 96 Kilo auf 1,58 Meter.

Mir ging es nicht gut. Mein Stiefvater machte gemeine Kommentare über meinen Körper. Sport mochte ich nicht. Schulsport. Da ging man hin und musste sich erst mal ausziehen beim Umziehen. Ich war sehr ruhig, ich blieb eine Landpomeranze mitten in Berlin, kleen, dick und schüchtern, weil ich kaum ausging. Ich bemühte mich, nicht aufzufallen. Ich wehrte mich auch nicht. Ich dachte: Irgendwie haben sie ja Recht, die so lästern.

1968 begann ich meine Lehre im Krankenhaus, und ich hatte Glück. Seit ich dort arbeite, hat noch keiner ein böses Wort zu mir gesagt. Ich glaube, ab da ging es mir viel besser als anderen Dicken, die am Gewicht regelrecht zerbrachen. Das Umfeld ist wichtig. So wichtig, dass es die Figur fast unwichtig machen kann. Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass ich mit meinem Körper bestimmt ein Thema bin, aber ich habe damals schnell gemerkt, dass es schaden kann, mit seinen Problemen hausieren zu gehen; ich habe radikal damit aufgehört.

Im Krankenhaus wurde einmal gelacht über jemanden, der ein bisschen stämmig war, und ich sagte: Also hört mal, eine Gazelle bin ich auch nicht. Da meinte eine Kollegin ganz nachdenklich: Stimmt, aber bei dir sehe ich das irgendwie nicht. Was ich damit sagen will: Es ist auch eine Frage der Selbstpräsentation. Wer zugänglich ist und freundlich, der kann die Leute über vieles hinwegsehen lassen. Es sind immer die, die zeigen, dass sie wenig Selbstwertgefühl haben, die getreten werden.

Zwischendurch hatte ich sogar richtig gute Zeiten. Ich bin so und kann nicht anders werden, habe ich mir gesagt. Ich mochte mich – vor dem Ausgehen. Und dann kam meine Freundin und stellte sich neben mich mit ihren 48 Kilo. Und ich sagte, ach, ich geh doch nicht mit. Es gibt kaum etwas, das einen so in Gefühls-Achterbahnen stürzt wie Gewichtsprobleme.

Man gewöhnt sich das Frustessen dann so an, dass es zum Schluss automatisch geht. Zu den Mahlzeiten habe ich eigentlich normal gegessen, es war nicht so, dass es zum Frühstück drei Brötchen gab oder mittags zwei Mal Spaghetti, aber zwischendurch – was mir in die Finger fiel. Da habe ich mir ein Brot geschmiert. Dann noch eins. Und noch eins. Ich machte Diäten und nahm auch ab, aber: Oberschenkel, Po und vor allem Waden blieben unproportional dick – und kein Arzt hat bemerkt, was, wie ich später erfuhr, eigentlich ein typisches Symptom ist für ein Lipödem (Kasten). Die fettfreien Hände und Füße. Und dann ab Unterarm und Unterschenkel wie aufgepustet… Also aß ich – und machte es immer schlimmer.

Vor zwei Jahren ging es mir dann richtig schlecht. Ich hatte Bluthochdruck und nahm vier Tabletten am Tag, ich bekam eine Blutung im Auge, dicht am Sehnerv, und konnte nicht mehr lange stehen. Haben Sie sich mal gefragt, wie es ist, dick zu sein? Ich musste etwas unternehmen und war trotzdem wie gelähmt. Ich wusste eben aus der Erfahrung vieler Jahre, ich würde eine Diät nicht durchhalten, da war schon eine richtige Blockade, die mir suggerierte: Dünn wirst du eh nie.

Dann kam mir der Zufall zu Hilfe. In einem Spezialsanitätshaus in Zechlin wollte ich mir Strümpfe verschreiben lassen, da sagte die Verkäuferin nebenbei, achja, solche Beine habe ich schon oft gesehen, in der Klinik nebenan behandeln sie Ödeme. Da wollte ich einfach nur noch wissen: Habe ich so was? Oder habe ich mir mein Fett wirklich angefressen? Und das Erste, was der Arzt sagte, war: An den Armen erkenne ich schon das Lipödem.

Ich ging da raus und war erst einmal glücklich. Du bist nicht schuld an dir selbst! Und dann fiel ich in das Loch. Die vertane Zeit! Dreißig Jahre, die ich nicht so hatte leben können, wie ich hätte leben können. Immer das An-sich-selbst-Verzweifeln. So ein Lipödem ist nicht heilbar, aber wenn ich das vor 30 Jahren gewusst hätte, hätte ich gelernt, damit umzugehen, hätte mir nicht zusätzlich Frustfett angefressen. Denn es ist schon so: Ein guter Teil meines Gewichts ist selbst gemacht, da war ich wie die anderen.

Es ist aber trotzdem ein Unterschied, ob man zu den „normalen“ Dicken gehört, die sich selbst nicht mehr ausstehen können, weil sie es nicht fertig kriegen, die eigene Schwäche zu überwinden und abzunehmen – oder ob man eine Erklärung hat. Letztendlich sind es die Selbstzweifel, die einen fertig machen, nicht die Kilos.

Jetzt ist die Lähmung weg. Ich bekomme Lymphdrainage und gehe zur Ernährungsberatung. Seit April habe ich 15 Kilo abgenommen. Ich fühle mich normal, ich fühle mich wie alle anderen.

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