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Bestimmte Ängste in der Großstadt kennt wohl jeder. Aber wie gefährlich ist sie wirklich?

© dpa

Wie gefährlich ist Berlin?: Ohne Angst durch die Stadt

Für viele ist Angst ein ständiger Begleiter. Für die Politik ein mächtiger Feind. Denn wie soll man ankommen gegen ein Gefühl? Polizei, BVG und Planer arbeiten zusammen daran, Berlin sicherer zu machen. Eine Daueraufgabe.

Und dann packt dich die Angst. Weil der Typ, der dir da entgegenkommt auf menschenleerer Straße, mit der Entschlossenheit einer Planierraupe auf dich zuläuft. Weil du sein Gesicht nicht sehen kannst unter der Kapuze. Weil er wirkt, als sei er auf Ärger aus.

Und dann packt dich die Angst, und dein Herz schlägt bis zum Hals, als du hörst, wie sie die Bierflaschen an den Wänden der U-Bahn-Haltestelle zersplittern lassen, wie sie lachen und grölen, und dann hörst du sie sagen, Alter, guck’ mal, der sitzt da hinten ganz allein!

Und dann stockt dir der Atem, als du bemerkst, dass der Rucksack da auf dem Platz neben dir im Intercity schon seit einer Stunde niemanden mehr interessiert hat. Du spürst, wie du dich verspannst. Aber was machen?

Angst kann krank machen

Überall kann sie einen überwältigen, die Angst – und zu jeder Zeit. Wie die Stadt der Ort aller Möglichkeiten geworden ist, so ist sie auch der Ort, an dem man aus dem Nichts heraus zu schwerem Schaden kommen kann. Weil ein Schläger Geld braucht. Weil ein Irrer hinter dir auf der Treppe Lust hat, dich zu treten. Weil einer, der sich für einen „heiligen Krieger“ hält, mit seinem Hass deinen Weg kreuzt. So ist die Angst zum Politikum geworden: Die Forderung nach „mehr Sicherheit“ ist nichts anderes als die Forderung, in bestimmten Situation und an bestimmten Orten keine Angst (mehr) haben zu müssen. Für die Politik ist der Umgang mit dem diffusen Gefühl dieser Unsicherheit eine Daueraufgabe, ein endloses Bemühen, dem Irrationalen mit vernünftigen Entscheidungen zu begegnen.

Angst kann krank machen. Als Krankheit betrifft sie Menschen mit Angstzuständen – und die Kassen, die deren Therapeuten bezahlen. Sie betrifft Städter mehr als Landbewohner. Weil es in den Städten mehr Angstursachen gibt – und mehr Therapeuten. Fachleute verweisen auf ein unauflösbares Ursache-Wirkung-Problem: Stand am Anfang die Angst – etwa: zu versagen – und dann gab es zum Glück das therapeutische Angebot? Oder war da ein diffuses Unwohlsein im eigenen Leben – und ein Therapeut, der eine Angststörung identifiziert?

Angst ist ein Wirtschaftsfaktor

Eine große Krankenkasse hat als Trend in den vergangenen zehn Jahren die Ängste der Studenten ermittelt. Haben die heute nicht alle Chancen, die man sich wünschen kann? Jobmöglichkeiten, die Aussicht auf eine optimale Work-Life-Balance und Karriere nach Maß? Immer mehr fürchten offenbar, in einem System zu versagen, das ein optimiertes Dasein zu fordern scheint.

Angst ist ein Wirtschaftsfaktor, wenn sie Menschen davon abhält, an einen Ort zu fahren, der sie interessiert. London, Paris, Brüssel, Berlin als Anschlagsorte – die Berliner Tourismusfachleute haben nach der Serie der Terrortaten einen Rückgang im Interesse der Stadttouristen ausgemacht. Sie betraf Besucher aus Asien; ein gutes Viertel sagte laut einer Umfrage eine Europareise ab.

Jetzt aber ist die Nachfrage wieder auf dem alten Niveau. Der Berliner Robustheit sei Dank. Dass die Bewohner der Stadt sich nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz nicht vom Shoppen und Feiern und Flanieren abhalten ließen, kommunizierte sich bis nach Asien. Keine leeren Plätze, keine verödeten Einkaufsstraßen, keine sichtbare Angst: Auf die Bilder komme es an, sagt ein Tourismusfachmann.

Berlin – offene Stadt. Vor ein paar hundert Jahren waren Städte mit ihren Mauern und ihren bewachten Zugängen Bastionen gegen die Angst. Die Gefahr sollte draußen bleiben, in den Wäldern, wo die Gesetzlosen hausten und anderen die Kehle durchschnitten für das bisschen Geld, das die in der Tasche hatten. Heute sind die Städte offen für alle, die Guten wie die Schlechten.

Raumangst wurde in Berlin erfunden

Doch es gibt keine typische Angst der Städter, nur eine Rangfolge der Ängste. Sie hängt ab von dem, was die Menschen wahrnehmen. Das Fahren in der U-Bahn kann krank machen oder der Gang über einen weiten, leeren Platz – die Raumangst. Sie wurde in Berlin erfunden. Der Nervenarzt Professor Carl Westphal veröffentlichte 1871 im „Archiv für Psychiatrie“ einen Aufsatz, der so begann: „Seit mehreren Jahren haben sich wiederholt Kranke mit der eigenthümlichen Klage an mich gewandt, dass es ihnen nicht möglich sei, über freie Plätze und durch gewisse Straßen zu gehen und sie aus Furcht vor solchen Wegen in der Freiheit ihrer Bewegungen genirt würden.“

Diese Menschen waren vermutlich bei Professor Westphal richtig. Wie alle, die an einer krankmachenden Angst leiden, bei einem Arzt oder Psychotherapeuten richtig sind.

Das andere sind die Alltagsängste: die nicht akuten, doch präsenten Befürchtungen, dass einem in der großen Stadt etwas Schlimmes zustoßen könnte. Diese Ängste spiegeln die Gegenwart – das, was wir als Gesellschaft wahrnehmen, direkt oder über die Medien.

Berliner sind abgebrühter als andere

Eine deutsche Versicherung untersucht die Ängste der Deutschen im Jahresrhythmus. Die Rangliste 2017 liest sich wie ein Überblick über die aktuellen politischen Themen: 71 Prozent der Deutschen hatten 2017 Angst vor Terrorismus. Es folgten die Angstmacher Extremismus, Spannungen durch Zuzug von Ausländern, Kosten für Steuerzahler durch EU-Schuldenkrise, Schadstoffe in Nahrungsmitteln, Überforderung der Deutschen und/oder der Behörden durch Flüchtlinge und Naturkatastrophen.

Die Berliner sind der Umfrage zufolge erheblich abgebrühter als der deutsche Durchschnitt. Hier haben gerade 56 Prozent Angst vor einem Terroranschlag – trotz des Massenmordes auf dem Breitscheidplatz im Dezember 2016. Umgekehrt fürchten die Berliner mehr als der deutsche Durchschnitt und mehr als alles andere „Spannungen durch den weiteren Zuzug von Ausländern“: Alltags-Angst als Spiegel der Alltagserfahrung.

Wie sehr das zutrifft, zeigt sich an einer Frage: Erinnert sich noch jemand an Anthrax? Kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 machte eine Serie von Briefen mit einem weißen Pulver den Amerikanern Angst. Auch in Berlin wurden solche Briefe gesichtet und führten zu Großeinsätzen der Polizei. Alles längst vergessen.

Schläger suchen sich schwache Opfer

Nicht verschwunden, aber schwächer geworden ist die Angst der Deutschen, zum Opfer eines Verbrechens zu werden. Die Langstrecken-Kurve der Ängste vor einem Raubüberfall, einem Einbruch oder einem Betrug sinkt seit den 90er Jahren kontinuierlich: von rund 40 Prozent auf knapp 30. Frauen haben davor deutlich mehr Angst als Männer (36 zu 23 Prozent): Angst als Spiegel der Wirklichkeit. Schläger sind nun mal öfter männlich, und viele suchen sich gern schwächere Opfer.

Mehr Polizei, mehr Ermittlungserfolge, Sicherheitsleute bei jedem Event – der Kampf gegen die Angst ist ein endloser. Fachleute aller Art arbeiten gegen die Alltagsangst, Präventionsexperten der Polizei, Spezialisten der Verkehrsbetriebe. Keine verwinkelten Ecken in den U-Bahnhöfen, das sei ein Ziel, sagt BVG-Sprecherin Petra Reetz. Ein anderes: auf dem Weg hinunter soll man die Treppe am Ende des Bahnsteigs sehen, den Fluchtweg. Für die Polizei berät Ingrid Hermannsdörfer Bauplaner, wie man öffentliche Räume sicherer gestalten kann. Eine ihrer Thesen: „Licht, Übersichtlichkeit, Behindertengerechtigkeit, Aufenthaltsqualität und Nutzbarkeit für viele unterschiedliche Nutzergruppen. Wenn eine Gruppe einen Raum dominiert, verunsichert das viele.“ Siehe der Alexanderplatz am Abend mit den Party-Kids, von denen manche gern Ärger machen.

Hermannsdörfer sagt auch: „Wir würden uns wünschen, noch mehr schon im Vorfeld oder in der ersten Phase von Planungen einbezogen zu werden und nicht erst, wenn bereits Probleme aufgetreten sind und nachgebessert werden muss. Der polizeiliche Blick kann den Planerblick sinnvoll ergänzen.“

Die angstfreie Stadt wirkt bei allen Bemühungen wie ein unerreichbares Ideal. Im Hintergrund bleibt die Angst immer dabei. Es hilft nur, sie selbst zu beherrschen.

Angst im dunklen Park: Was tun?

Nachts allein im Park: Da fühlen sich die wenigsten wohl.
Nachts allein im Park: Da fühlen sich die wenigsten wohl.

© Cay Dobberke

Angst im dunklen Pauk: Woher kommt die Angst?

Dunkelangst ist eine angeborene Angst, die im Laufe der Evolutionsgeschichte des Menschen weitergegeben wurde. Dunkelheit bedeutete für unsere Vorfahren einen Kontrollverlust und Gefahr; zum Beispiel in Höhlen, die Zufluchtsort der Menschen und Lebensraum wilder Tiere waren. In einem dunklen Berliner Park muss man zwar keine Angst vor wilden Tieren haben, das ungute Gefühl, seine Umgebung nicht überblicken zu können, bleibt aber. Das gilt auch für spärlich beleuchtete und unübersichtliche Orte wie Unterführungen oder Tiefgaragen.

Ist die Angst begründet?

Auf der Liste „kriminalitätsbelasteter Orte“ der Polizei tauchen zwei Parks auf: der Kleine Tiergarten und der Görlitzer Park. Aber auch andere Grünanlagen, wie zum Beispiel die Hasenheide, sind Schauplatz von Verbrechen und Drogenhandel. Der Große Tiergarten schien zuletzt zu verwahrlosen, neben Gruppen von Obdachlosen machten Dealer und Stricher Schlagzeilen. Am 5. September wurde eine 60 Jahre alte Frau auf dem Weg vom Biergarten Schleusenkrug zum Bahnhof Zoo überfallen und getötet. All diese Fälle bedeuten aber nicht, dass die Parks der Stadt grundsätzlich gefährlich sind, Präventionsexperten der Polizei machen dazu keine Aussage. „Zwischen Kriminalitätsfurcht und Kriminalitätsrealität gibt es oft keine begründeten Zusammenhänge“, sagt Strafrechtsprofessor Felix Herzog. „Natürlich gibt es an diesen Orten Straftaten. Aber das heißt nicht, dass jeder nächtliche Spaziergang im Park zwingend zu so einer Situation führt.“ Fälle wie der Raubmord im Tiergarten verstärken Ängste enorm. „Auch mich hat das sehr erschreckt. Es passt in den Topos: Der Park ist der Ort, an dem eine Frau überfallen und möglicherweise vergewaltigt oder getötet wird“, sagt Herzog. „Doch das ist nichts, was man verallgemeinern kann.“

Was tun gegen die Angst?

Fast niemand ist gezwungen, im Dunkeln eine Berliner Grünanlage zu betreten. Wer dennoch in einem Park unterwegs ist und sich unwohl fühlt, kann sich damit behelfen, zu telefonieren. Präventionsexperten der Berliner Polizei sagen zwar, ein sichtbares Telefon könne auch „Tatanreiz“ für einen Diebstahl sein. Zudem neige man dazu, beim Telefonieren weniger aufmerksam zu sein. Es kann potenzielle Täter aber abschrecken, wenn man in einem realen oder auch nur vorgetäuschten Telefonat erwähnt, dass man sich gleich treffen werde – „Na, dann sehen wir uns ja gleich, hast Du die Hunde dabei? – oder laut und deutlich seinen Standort durchgibt. Wer keinen Gesprächspartner für ein Telefonat hat, kann bei der Hotline des „Heimwegtelefons“ anrufen. Durch das Gespräch mit den Mitarbeitern der gemeinnützigen Organisation soll der Anrufer das Gefühl haben, nicht alleine nach Hause zu gehen. Um selbstbewusster und damit weniger attraktiv für Täter wirken, kann es schon helfen, beim Gehen kräftiger aufzutreten, Körperspannung aufzubauen und mit den Augen einen Punkt in der Ferne zu fixieren.

Angst im Gedränge

Ist das Gedränge nur vorübergehend? Sind wir unfreiwillig hineingeraten? All das spielt für unser Empfinden eine Rolle.
Ist das Gedränge nur vorübergehend? Sind wir unfreiwillig hineingeraten? All das spielt für unser Empfinden eine Rolle.

© picture alliance / dpa

Angst im Gedränge: Wo kommt die Angst her?

Als allgemeiner Wohlfühlabstand während einer Unterhaltung gilt eine Armlänge, also ungefähr 1,2 Meter. In unseren Intimbereich, dichter als 45 Zentimeter, lassen wir am liebsten nur unsere Partner, Familienmitglieder, kleine Kinder oder Haustiere. Wird er durch andere verletzt, empfinden die meisten das als unangenehm. Ob die Dichte als bedrohlich empfunden wird, hängt aber von der Situation ab: Befinde ich mich freiwillig im Gedränge, etwa bei einer Party? Ist es nur vorübergehend, zum Beispiel während einer Fahrstuhlfahrt, oder muss ich damit rechnen, lange dicht an dicht zu stehen? Wer ungewollt eingeengt wird, kann das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren.

Ist die Angst begründet?

„Viele Menschen lieben es, mit Menschen zusammen zu sein. Wenn man in einer Gruppe ist, stärkt das die Endorphine“, erklärt Psychiater und Angstforscher Borwin Bandelow. „Wer grundsätzlich anders empfindet, leidet vermutlich unter einer Panikstörung, bildet sich ein, keine Luft zu bekommen, und sorgt sich: Im Notfall erreicht mich hier keine Hilfe.“ Laut Jens Plag, stellvertretender Leiter der Angstambulanz der Charité, können aber auch diejenigen, die grundsätzlich kein Problem mit Getümmel haben, es mal mit der Angst bekommen: „Wenn man eh schon ein bisschen gestresst ist, vielleicht, weil man einen anstrengenden Tag hatte, nimmt man so eine Situation schnell als überstressig wahr.“ Selbst für Patienten mit körperlichen Erkrankungen besteht in der Regel aber keine ernsthafte Gefahr. „Dass es im Gedränge zu wirklich gefährlichen Situationen kommt, ist äußerst selten“, sagt auch Bandelow.

Was tun gegen die Angst?

So plötzlich die Angst entstehen kann, so schlecht wird man sie wieder los. In einer ähnlich beengten Situation wird sie wieder aktiviert, vier Prozent der Deutschen leiden unter Agoraphobie, chronischer Angst im Gedränge. Wenn die so groß wird, dass man nicht mehr zur Arbeit fahren kann, weil man in keine volle U-Bahn einsteigen will, ist professionelle Hilfe gefragt. Alle anderen können nur tief durchatmen und versuchen, sich mithilfe der Vernunft zu beruhigen: Es wird nichts passieren..

Angst vor herrenlosen Gepäckstücken

Bombe oder bloß vergessen? In Zeiten von Terroranschlägen sind wir schnell alarmiert.
Bombe oder bloß vergessen? In Zeiten von Terroranschlägen sind wir schnell alarmiert.

© dpa

Angst vor herrenlosen Gepäckstücken: Woher kommt die Angst?

Die Vorsicht ist gelernt: Schreckensbilder von vertrauten und nicht allzu fernen Orten wie Paris, Nizza oder Brüssel sind uns im Kopf geblieben. 2016 erreichte der Terror in Form eines Menschen niederwalzenden Lkws auch Berlin. „Mediale Hiobsbotschaften lassen sich nicht ausblenden“, erklärt Peter Walschburger, Biopsychologe an der Freien Universität Berlin. Zwar war bei keinem der genannten Anschläge ein Sprengsatz in einem irgendwo abgestellten Beutel oder Rucksack versteckt, dennoch kennen wir Beispiele von Kofferbomben und verlinken herrenlose Gepäckstücke gedanklich schnell mit Gefahr. „Spätestens, seit der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière 2010 eine offizielle Terrorwarnung ausgesprochen hat und die latente Bedrohung seither wiederholt öffentlich bestätigte, sind wir und unser Hirn sogar ausdrücklich dazu aufgerufen, wachsam zu sein.“ Es kann ja jederzeit und überall passieren. Wir fühlen uns der Bedrohung hilflos ausgeliefert.

Ist die Angst begründet?

Jeden Tag werden allein in Bussen und Bahnen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) rund 60 Gepäckstücke gefunden. Meistens folgt daraus allenfalls ein persönliches Ärgernis für denjenigen, der es vergessen hat. Knapp 400 Mal rückte im Jahr 2016 die Entschärfer-Einheit des Landeskriminalamts aus. Standardmäßig entpuppt sich der Inhalt verdächtiger Gegenstände jedoch als ausgesprochen banal – Lebensmittel, Kleidung, Altglas. Die wenigen Ausnahmen, bei denen tatsächlich explosives Material festgestellt wird, verzerren das subjektive Sicherheitsempfinden. Statistisch gesehen ist das Risiko, Opfer eines Terroranschlags zu werden, um ein Vielfaches geringer als das, tödlich im Haushalt zu verunglücken.

Was tun gegen die Angst?

Einige wechseln schlicht den Waggon. Ginge von einem Objekt tatsächlich Gefahr aus, wäre das natürlich unverantwortlich. Matthias Lehmann von der Polizeidirektion Berlin empfiehlt deshalb: „Erstmal in die Runde fragen, ob jemandem der Koffer gehört. Manche stellen ihr Gepäck am Eingang ab und setzen sich fünf Meter weiter hin.“ Womöglich haben Mitreisende eine alten Dame beobachtet, die die Tasche in der Eile des Umsteigens stehen lassen hat. Gibt es keine spontane Erklärung, sollten Fahrgäste an der nächsten Haltestelle vorsorglich das Bahnhofspersonal ansprechen oder per Handy die Polizei informieren. Über Notrufsäulen in den U-Bahnhöfen nimmt die Zentrale der BVG Hinweise entgegen. Die Polizeidirektion rät ausdrücklich davon ab, Gegenstände selber zu bewegen. Ist eine Tragetasche offen, darf aber durchaus ein Blick riskiert werden – der vielleicht eine schnöde Sammlung Pfandflaschen offenbart. Handeln ist zuweilen also durchaus richtig. Der Psychologe Walschburger meint: „Es kommt für jeden Einzelnen von uns darauf an, dass wir die Mitte finden zwischen einer gleichgültigen, indifferenten Haltung und einer alarmistischen, kopflosen, affektdominierten Reaktion.“

Angst vor Ratten

Ehe eine Ratte einen Menschen angreift, läuft sie lieber davon.
Ehe eine Ratte einen Menschen angreift, läuft sie lieber davon.

© dpa

Angst vor Ratten: Woher kommt die Angst?

Seit die Ratte im Mittelalter aus dem Nahen Osten nach Europa eingewandert ist, hat sie bei uns einen äußerst schlechten Ruf. Weil sie Getreidevorräte wegfraß, galt sie schnell als Schädling. Weil sie sich auch von Müll ernährte, löste sie Ekel aus. Mitte des 14. Jahrhunderts raffte die Pest ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahin, übertragen wurde die Seuche durch den Rattenfloh, die Ratte als Wirtstier des Flohs galt den Menschen aber als Auslöser der Epidemie. Grundsätzlich glauben Angstforscher, dass eine Phobie vor Tieren – auch vor so kleinen wie einer Ratte – auch ein Erbe der Evolution ist. Nur diejenigen unserer Vorfahren, die Angst vor wilden Tieren zeigten, konnten überleben und ihre Gene und damit auch die Angst weitergeben.

Ist die Angst begründet?

Die Chance, in Berlin einer Ratte zu begegnen, ist groß. Vermutlich bewegt sich ihre Zahl im niedrigen einstelligen Millionenbereich. Die Wanderratte (rattus norvegicus) ist dabei in Berlin deutlich häufiger als die Hausratte (rattus rattus). Laut dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) ist die Zahl der Bekämpfungsmaßnahmen zwischen 2010 und 2016 von 4579 pro Jahr auf 9114 gestiegen. „Wenn Sie eine Ratte treffen, wird die aber wegrennen – das sind Fluchttiere“, sagt Kammerjäger Mario Heising, der seit mehr als 30 Jahren in Berlin Schädlinge bekämpft. "Ich habe noch nie gehört, dass eine Ratte versucht hat, einen Menschen anzugreifen." Angst vor der Ratte selbst muss man also nicht haben - wohl aber vor ihrem Kot und ihrem Urin, die bis zu 120 Krankheiten übertragen können. Das kann geschehen, wenn Ausscheidungen der Ratte in den menschlichen Körper gelangen, zum Beispiel über Schleimhäute, eine kleine Wunde oder Nahrungsmittel, die Ratten angefressen oder verunreinigt haben. In geschlossenen Räumen können getrocknete Partikel von Rattenkot sogar eingeatmet werden. Ratten tragen auch alle in der Kanalisation auftretenden Keime mit sich herum, Mario Heising nennt als Beispiel die Charité: „Dort liegen Menschen mit Hunderten von Krankheiten – die Patienten gehen alle auf die Toilette. Und in der Kanalisation sitzen die Ratten, die dort essen und trinken.“

Was tun gegen die Angst?

Selbst der Profi ist nicht vor dem Schrecken gefeit, den Ratten verbreiten können. „Wenn ich in einen Keller komme und da tummeln sich 25 Ratten – da mache ich erst einmal kehrt“, sagt Mario Heising. Wo eine Ratte zu sehen ist, verstecken sich meist noch mehr, die Tiere vermehren sich rasant. Eine Rattenpopulation wird man nur mit einem Kammerjäger los, der die Tiere mit Fallen und Gift bekämpft. „Jeder, der eine Ratte im öffentlichen Straßenland sieht, ist dazu aufgerufen, das beim Gesundheitsamt zu melden“, heißt es beim Lageso. Das beste Mittel gegen Ratten ist allerdings, ihnen so wenig Futter wie möglich zur Verfügung zu stellen, also Parks nicht vollzumüllen, Papierkörbe nicht überquellen zu lassen und vor allen Dingen keine Essensreste in die Toilette zu kippen.

Angst vor psychisch Kranken

Angst vor psychisch Kranken: Woher kommt die Angst?

Täglich begegnen uns Menschen im Stadtraum, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Sie reden oder schreien laut vor sich hin, bewegen sich hektisch und verhalten sich manchmal auch aggressiv. Diese Symptome können darauf hinweisen, dass die Betroffenen an Psychosen und Schizophrenie leiden. „Was fremd und unerklärbar ist, macht uns Angst“, erklärt Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Angesichts nicht seltener Berichte über Gewalttaten im Stadtraum können psychisch Kranke zu Projektionsflächen für die Angst im öffentlichen Raum werden. Wer sich seltsam verhält, wirkt verdächtig. Nicht zuletzt in Filmen und Romanen begegnet uns das Bild des psychopathischen Mörders immer wieder. Deister kritisiert, dass dies die Stigmatisierung verstärkt.

Ist die Angst begründet?

Betroffene neigen laut Deister nicht per se zu erhöhter Gewaltbereitschaft. Psychosen und Schizophrenie sind allerdings schwere Erkrankungen. Psychotiker können den Realitätsbezug verlieren, leiden unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Häufig hören sie Stimmen oder fühlen sich verfolgt. Meist bezieht sich ihr Verhalten aber auf die erlebte Innenwelt und hat wenig mit Anwesenden zu tun. Laut Bundespsychotherapeutenkammer haben in Deutschland aktuell rund 800 000 Menschen Schizophrenie.

Was tun gegen die Angst?

Arno Deister empfiehlt, bei einer Begegnung ruhig zu bleiben und keineswegs mit Aggression zu reagieren, da dies psychotische Menschen überfordern könnte. Wer sich unwohl oder belästigt fühlt, sollte stets bedenken, dass das Verhalten Ausdruck einer Erkrankung ist. Der Kontakt mit psychotischen Personen ist in der Regel unproblematisch – man kann sie ansprechen und durchaus auch Hilfe anbieten. Sollte sich die Person allerdings grenzüberschreitend verhalten, rät der Fachmann dazu, die Polizei zu rufen und direkt über den Verdacht einer psychischen Erkrankung zu informieren. Gegenüber der Person gilt es dann, Abstand aufzubauen. Oft hilft es, Umstehende anzusprechen und einzubinden.

Angst bei Unfällen

Wer bei Unfällen den Notarzt ruft und die Unfallstelle sichert, hat schon viel geholfen.
Wer bei Unfällen den Notarzt ruft und die Unfallstelle sichert, hat schon viel geholfen.

© picture alliance / dpa

Angst bei Unfällen: Woher kommt die Angst?

Ein Unfall ist ein unvorhersehbares Ereignis, das dem Menschen schlagartig seine Zerbrechlichkeit vor Augen führt. Wir verunglücken ab dem Moment, in dem wir lernen zu laufen: keine Kindheit ohne blutige Knie, geklemmte Finger, Brandblasen. Heute seien viele aber nicht mehr in der Lage, Wunden selber zu versorgen, sagt Andreas Ohlwein, Sprecher der Berliner Feuerwehr. Das ist auch eine Nebenwirkung der Dienstleistungsgesellschaft: Erste-Hilfe- Kurse kennen die meisten nur von der Führerschein-Ausbildung. Folgerichtig nimmt auch die Hilfsfähigkeit gegenüber Mitmenschen ab – wer Zeuge eines Unfalls wird, scheut es, sich einzubringen, aus Furcht, zu versagen. Auch die Angst vor rechtlichen Konsequenzen oder einer Infektion verunsichere potenzielle Helfer, vermutet Ohlwein. Bei einer ausgeprägten Angst davor, Blut zu sehen, kann allerdings auch eine medizinisch anerkannte, spezifische Angststörung zugrunde liegen.

Ist die Angst begründet?

Wenn man Zeuge eines Unfalls wird, ist schon viel gewonnen, wenn man die Stelle absichert, Sanitäter ruft und Beistand leistet. Maßnahmen zur Wiederbelebung sind nur in äußerst seltenen Fällen erforderlich. Wichtig ist: Falsche Erste Hilfe gibt es nicht – strafbar macht sich nur, wer sich drückt. Selbst wenn sich der Zustand eines Verunglückten infolge von Sofortmaßnahmen verschlechtert, kann der Ersthelfer dafür also rechtlich nicht belangt werden.

Was tun gegen die Angst?

Grundsätzlich ist jeder zur Hilfe verpflichtet, der dazu in der Lage ist – trotz Zeitnot und Ekel. Wer Angst hat, muss zumindest 112 wählen und die Unfallstelle absichern. Viele Einsatzzentralen bieten eine telefonische Anleitung an, von der Erstversorgung bis zur Wiederbelebung. Am effektivsten helfe gegen Ängste der Erwerb von Kompetenzen, sagt Andreas Ohlwein. Erste-Hilfe-Kurse werden in Berlin vielfach angeboten. Schon nach wenigen Stunden steigt die Handlungssicherheit, zudem lernen Teilnehmer Hygieneregeln und Schutzmaßnahmen. Eine Blutphobie lässt sich mit einer Psychotherapie meist in kurzer Zeit überwinden.

Angst vor Hunden

Hunde beißen oft aus Unsicherheit. Man kann lernen, wie man sich ihnen richtig nähert.
Hunde beißen oft aus Unsicherheit. Man kann lernen, wie man sich ihnen richtig nähert.

© Foto Kitty Kleist-Heinrich

Angst vor Hunden: Woher kommt die Angst?

Es gibt naheliegende Erklärungen dafür, fundiert nachgewiesen sind nur wenige. Erwiesenermaßen oft speist sich die Angst aus erlebten oder erlittenen Attacken der Tiere, aus der medialen Berichterstattung darüber und dem Hörensagen – und nicht zuletzt aus einer einfachen Tatsache: Manche Hunde sind augenscheinlich große, kräftige Tiere. Mit Fangzähnen.

Für den Urmenschen und seine Vorgänger könnte ein evolutionärer Vorteil darin bestanden haben, Angst vorm Hunde- Vorgänger Wolf gehabt zu haben. Wer sich von ihm fernhielt, hatte womöglich bessere Überlebenschancen, auch hinsichtlich der eigenen Ernährung. Denn Wölfe konnten Menschen nicht nur gefährlich werden, sie waren auch Nahrungsmittelkonkurrenten. Das verschärfte sich spätestens im Mittelalter – 813 erließ Karl der Große ein Gesetz, jeder Graf habe zwei Wolfsjäger zu ernennen. 999 Jahre später erschien erstmals die Märchensammlung der Brüder Grimm, inklusive „Der Wolf und die sieben Geißlein“ und „Rotkäppchen“.

Ist die Angst begründet?

Hunde beißen. 105 000 waren im Jahr 2016 in Berlin gemeldet, die Senatsverwaltung für Verbraucherschutz nennt für dasselbe Jahr 614 „Fälle, in denen Menschen verletzt oder angesprungen wurden“. Die Zahl „beruht auf Meldungen, die bei den Bezirksämtern eingegangen sind“.

Was tun gegen die Angst?

Friederike Range sagt: „Wir wissen nicht, wie man sie überwindet.“ Range ist Verhaltens- forscherin in Wien, spezialisiert auf Wölfe und Haushunde, vor zehn Jahren gründete sie ein Wolfsforschungszentrum. Gerade bereitet sie eine Forschungsarbeit zum Thema „Angst vor Hunden“ vor, zu ihrem Erstaunen fand sie kaum Fachliteratur dazu, keine Studie, nur einige oberflächliche Frage- bogen-Untersuchungen. Einzig belegt sei der Umstand, dass Menschen, die als Kind schon Erfahrungen mit Hunden machen konnten und mit Hunden aufwuchsen, später weniger Angst vor den Tieren hätten als andere Menschen. Auch dann, wenn sie selbst einmal attackiert worden sind.

Ob sie selber angstfrei sei? „Nein. Wenn da ein großer Hund ist, bin ich vorsichtig. Es gibt bei uns einige Wölfe im Gehege, zu denen ich eher reingehen würde als zu großen Hunden.“ Denn Wölfe kommunizierten beispielsweise mehr als Hunde. Ein Blick, ein Knurren, ein sich Dem-Menschen-in-den-Weg-stellen, „man kriegt definitiv eine Warnung“, bevor es blutig werden könnte. Rica Lenz und Michael Breest, beide Tierschutzberater beim Berliner Tierschutzverein, empfehlen ängstlichen Menschen zwei Strategien für Alltagsbegegnungen mit Hunden. Die erste: dem Tier keine Beachtung schenken. Es nicht anschauen, nicht davonlaufen – also nichts tun, was wiederum das Interesse des Hundes wecken oder von ihm sogar als Bedrohung empfunden werden könnte. „Sich nicht über ihn beugen zum Beispiel“, sagt Lenz, „nicht von oben streicheln.“ Breest sagt, wer Angst hat, weil er eine unangenehme Erfahrung mit Hunden gemacht hat, könnte auch sein eigenes Verhalten hinterfragen. Was habe ich falsch gemacht, hat sich das Tier möglicherweise bedroht gefühlt? Das dabei Gelernte helfe bei künftigen Begegnungen. Hunde beißen oft aus Angst und Unsicherheit.

Angst an verrufenen Orten

Meldungen über Gewalttaten verzerren unsere subjektive Wahrnehmung.
Meldungen über Gewalttaten verzerren unsere subjektive Wahrnehmung.

© dpa

Angst an verrufenen Orten: Woher kommt die Angst?

Kottbusser Tor, Alexanderplatz, Warschauer Brücke: Manche Orte lösen fast automatisch Angst aus. Angstforscher Borwin Bandelow zufolge wird die Wahrscheinlichkeit, an bestimmten Orten Opfer zu werden, sehr subjektiv eingeschätzt – getrieben durch Berichterstattung über Straftaten. Man kennt die Meldungen und assoziiert etwa mit dem Kottbusser Tor sofort Verbrechen. Im Falle des Alexanderplatzes war es vor allem der Todesfall von Jonny K. 2012, der den Platz zu einem bekannten Angst-Ort machte.

Ist die Angst begründet?

Rund um den Alexanderplatz sind täglich mehr als 350 000 Menschen unterwegs. Angesichts dieser Menschenmenge ist der Durchschnitt von zwei Körperverletzungen und sieben Diebstählen pro Tag nicht bemerkenswert hoch. Eine No-Go-Area ist der Platz also nicht, genauso wenig wie Kottbusser Tor oder Warschauer Brücke. Die drei von der Polizei als „kriminalitätsbelastet“ eingestuften Orte haben aber gemein, dass dort die Zahl der Straftaten zuletzt stark angestiegen ist. An der Warschauer Brücke werden mehr als die Hälfte der Delikte am Wochenende begangen, wenn viele Touristen und Partygänger unterwegs sind. Auch am Alexanderplatz wird es in Wochenendnächten gefährlicher. Dann geraten Gruppen junger Männer in Streit, häufig sind Alkohol und Drogen im Spiel.

Was tun gegen die Angst?

Stadtforscher sagen: Tatorte sind nicht unbedingt Angstorte, Angstorte sind nicht unbedingt Tatorte. Soll heißen: Gefahr und Angst stehen selten in einem realistischen Verhältnis. Während sich zum Beispiel besonders alte Menschen vor Verbrechen fürchten, haben statistisch gesehen junge Männer zwischen 14 und 25 Jahren das höchste Risiko, Opfer einer Straftat zu werden – wie bei den Gruppenschlägereien am Alexanderplatz. Die Polizei rät in Situationen, in denen das eigene Bauchgefühl eine mögliche Gefahr signalisiert, nicht durch Gruppen hindurchzugehen. Die Politik kann Angst bekämpfen, indem sie nicht zulässt, dass Orte verwahrlosen. „Aggressives Betteln, öffentlicher Drogenhandel, maßloser Alkoholkonsum, Müll: Das sind Dinge, die Kriminalitätsfurcht wahnsinnig erhöhen“, sagt Strafrechtsprofessor Felix Herzog.

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