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Berlin: Willy Manns (Geb. 1947)

„Biete Dresdner Frauenkirche, suche Pankower Rathaus.“

Wir sind doch ganz normale Leute.“ Karin Manns hält abwehrend eine Hand in die Luft, lässt sie weich wieder sinken, greift nach der Teetasse, nimmt einen Keks, legt ihn wieder zurück, schaut aus dem Fenster, hinüber zum Pankower Rathausturm, der schmal zwischen zwei Neubauten ragt, sagt: „Wenn Willy hier im Wohnzimmer in seinem Sessel saß, wusste er immer, wie spät es ist.“ Sie tritt auf den Balkon, zündet sich eine Zigarette an. „Wir haben immer nur hier draußen geraucht, auch im Winter, zogen dicke Jacken an, setzten Mützen auf. Jeder hatte seinen Stuhl, seinen eigenen Aschenbecher, ich links, er rechts. Gegen halb sieben in der Früh saßen wir hier, tranken Kaffee, rauchten, lasen die Zeitung. Es gab Dinge, heikle Dinge, die ins Angesicht zu sagen, uns verlegen gemacht hätte. Also versteckten wir unsere Köpfe hinter den Seiten. ‚Ich möchte verbrannt werden’ offenbarte Willy eines Morgens. ‚In Ordnung’ antwortete ich. Seit er tot ist, habe ich kein einziges Mal mehr Zeitung gelesen.“

Sie drückt die Zigarette aus, läuft ins Arbeitszimmer, in dem nur noch ein Schreibtisch steht, kommt zurück mit zwei riesigen Büchern, samtener Einband, Goldschnitt, ein Fotoalbum, ein Postkartenalbum. „Hiermit hat alles angefangen. Wir fanden die Alben bei einer Wohnungsauflösung. Willy fühlte sich sofort angezogen von den alten Fotos, den Karten, den Geschichten, die sie erzählen. Er wollte diese Geschichten weitererzählen.“

Willy beginnt, Ansichtskarten zu sammeln. Aus Pankow. 1970, nach dem Studium, ist er nach Berlin gekommen, hierher, hat nie in einem anderen Bezirk gewohnt. Er läuft, mit seinem Söhnchen im Kinderwagen, durch die Wollankstraße, die Breite Straße, durch den Amalienpark, den Schlosspark, sieht die zerschossenen, verfallenen Häuser, möchte wissen, wie sie aussahen, einst. Gibt Anzeigen in Sammlerzeitschriften auf, „Biete Dresdner Frauenkirche, suche Pankower Rathaus“. Er braucht Alben für die Karten, immer mehr, ordnet, beschriftet, sucht nach den Geschichten. Später, in den Neunzigern, richtet er eine Internetseite ein, www.ansichtskarten- pankow.de, kauft bei Ebay, setzt sich ein für die denkmalgerechte Sanierung maroder Bauten.

Das Bürgerparktor möchte er noch sehen, wiederhergestellt, ohne Risse, ohne Einschusslöcher. Die Krankheit sitzt schon tief in ihm. Er schafft es. Und auch das ehemalige Jüdische Waisenhaus. Im Internet dokumentiert er dessen Geschichte, hält Kontakt zu ehemaligen Zöglingen. Freundschaften, Jahre währende, entstehen. Er trifft Professor Garbáty, einen Nachkommen des Pankower Zigarettenunternehmers. Die Marken „Königin von Saba“, „Garbáty Kalif“, märchenhafte Namen, weite Welten, dann Zwangsarisierung, Vertreibung. Garbáty will keine Rückübertragung, bezahlt den Schriftzug hoch oben am Giebel, kämpft mit Willy für eine sinnvolle Nutzung der einstigen Fabrik. Viele hundert Briefe schreiben sie sich, Garbátys beginnen immer mit den Worten „Mein lieber Junge“.

Karin Manns nimmt die Alben, trägt sie zurück ins Arbeitszimmer, steht im Türrahmen. „Willy war ein produktiver Sammler.“ Sie zögert. „Nein, eigentlich war er kein Sammler. Dafür genoss er das Leben viel zu sehr.“ Sie lacht. „Obwohl er auch anstrengend sein konnte. Früher hatten wir so eine Schrankwand, schrecklich, mit schmiedeeisernen Schlüsseln. Jeden Abend nach der Arbeit brachte er die Schlüssel in exakt die gleiche Position. Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich, verdrehte die Schlüssel absichtlich, hängte auch die Bilder ein wenig schief. Willy richtete alles wieder gerade, Tag für Tag, mit ernster Miene. Ich saß auf dem Sofa und feixte. Als er endlich bemerkte, was ich da tat, was er tat, konnten wir vor Lachen kaum mehr aufrecht sitzen.“ Karin Manns trinkt etwas Tee, isst einen Keks, nickt. „Er war mein bester Freund. Aber wie gesagt, wir sind ganz normale Leute.“ Tatjana Wulfert

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