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© Uwe Steinert

Winter 09/10: Wer den Gehweg streut, ist ein Spießer, oder?

Wer in Berlin seinen Gehweg streut oder die Hinterlassenschaft seines Hundes beseitigt, gerät schnell in den Ruf, ein Spießer zu sein. Weil wir in unserer anarchisch-bunten Metropole so entspannt sind? Oder einfach nur rücksichtslos?

Von Markus Hesselmann

Berlin kriegt den urbanen Alltag nicht mehr hin. Die vereisten Gehwege und die Lähmung, mit der die Millionenmetropole diesem Zustand wochenlang begegnete, sind dafür nur ein weiteres Beispiel. Die Stadt scheint ebenso kapituliert zu haben vor Autofahrern, die bei roter Ampel noch durchrasen und Fußgänger gefährden. Kapituliert vor Kampfradlern, die den Bürgersteig mit der Zielgeraden einer Tour-de-France-Etappe verwechseln. Kapituliert vor Hundehaltern, die ihre kleinen und großen Lieblinge vor Kindergärten und Schulen, in Grünanlagen oder schlicht vor anderer Leute Haustür kacken lassen. Kapituliert vor Gastronomen, die sich das Fettabscheideequipment sparen, weshalb wir uns gerade an den schönsten städtischen Ecken im Sommer wieder auf einen inzwischen schon typisch berlinischen Mief aus der Kanalisation freuen können. Und schließlich eben auch noch kapituliert vor Hauseigentümern, die sich nicht um vereiste Gehwege und die Sturzverletzungen ihrer Mitbürger scheren. Nach Wochen tat sich dann was: Hausmeister, Pförtner, sogar Strafgefangene packen jetzt mit an, mehr oder weniger freiwillig. Die BSR gibt kostenlos Granulat aus. Der Regierende Bürgermeister aber hatte weiterhin eher die Welt- als die Straßenlage im Blick („Berlin ist nicht Haiti“). Vor lauter „Be Berlin“ und globaler Werbung für unsere arm-anarchisch-bunte Kreativmetropole kommt bei Klaus Wowereit und seinem Senat der Kiez zu kurz. Der Regierende dockt sich mit seiner angestrengt unprovinziellen Haltung an Stadtfeuilletonisten an, die Berlins Anarchie feiern, zuletzt etwa in einem Berlin-Special des Gesellschaftsmagazins „Dummy“ (Schlagzeile: „Ohne Herrschaft! Ohne Staat!“). Die Zeitschrift adelt Falschparker, Rotfahrer und Rauchverbotsmissachter als irgendwie schwer kosmopolitische, geradezu mediterrane Lebenslust versprühende Kulturbotschafter. Gott, sind wir locker – und das als einstige Nazi-Metropole!

Dabei wird hier nur Rücksichtslosigkeit mit Entspanntheit verwechselt. Und wer sich einen solchen Hinweis erlaubt, gilt als Spießer. Das sei „so ziemlich das Schlimmste, was einem in Berlin passieren kann“, weiß „Dummy“. Mit bunter Anarchie hat diese aggressive Entspanntheit allerdings nichts zu tun. Sie ist das Gegenteil: Herrenmenschen-, pardon: Herrchenmenschenverhalten. Beispiel Hundekot: Meine Scheiße machen staatlich verpflichtete Kulis für mich weg, ich selbst verfüge über ein höheres Bewusstsein und habe beim Hundausführen Wichtigeres zu tun (zum Beispiel mobil zu telefonieren und/oder Fahrrad zu fahren). Ich werde mich bestimmt nicht bücken und mir die Hände schmutzig machen. Es ist ja gerade so, dass sich in staatsgläubigen Ländern wie Deutschland oder Frankreich die Hundescheiße auf den Gehwegen türmt. In traditionell liberaleren Gemeinwesen wie Großbritannien oder den USA ist es selbstverständlich, dass sich Herrchen selbst um die Hinterlassenschaft seines Hundes kümmert.

Allein mit dem Spießeremblem kommen Kritiker der Berliner Alltagszustände meist nicht davon. Schnell geht die Nazi- (wahlweise: Stasi-) Keule nieder. In der Hauptstadt herrscht aus geschichtlichen Gründen, die oft nur allzu bequem vorgeschoben werden, eine fast schon pathologische Aversion gegen alles, was wie Kontrolle wirken könnte. Dabei befänden wir uns sicher nicht auf dem Weg in den Polizeistaat, wenn öfter mal ein paar Fußstreifen unterwegs wären, gut sichtbar und bereit zur freundlich-fundierten Ansprache. Und ein Hausmeister, der mal den einen oder anderen Mitmenschen auf rücksichtsloses Verhalten hinwiese, wäre noch lange kein Blockwart.

Berlins Hausmeister traten gerade in diesen Tagen eher selten in Erscheinung. Selbst vor Schulen, Rathäusern und anderen öffentlichen Gebäuden hat sich das Eis betonhart festgesetzt. Wenn die Herren jetzt ab Montag mit anpacken, wo waren sie bislang? Dazu ein Dialog, aufgeschnappt in Schöneberg: „Ich habe den Hausmeister mal auf das gefährliche Eis vor seiner Schule angesprochen“, erzählt ein Passant mit ausländischem Akzent. „Und was hat er gesagt?“, fragt sein Gesprächspartner. „Wenn es mir hier nicht passt, soll ich dahin gehen, wo ich herkomme.“

Hauptstädtische Hausmeister fürchten dasselbe wie die BVG: den Präzedenzfall. Die Erklärung der Verkehrsbetriebe, dass sie das Eis an Haltestellen nicht beseitigten, weil das dann zur Gewohnheit werden könne, klingt unglaublich. Man hat die stürzende Oma und die Fratze des gnadenlosen Bürokraten gleichzeitig vor dem geistigen Auge. Im Grunde aber verhalten wir uns mit wenigen Ausnahmen doch alle so: Wir wollen keine Präzedenzfälle schaffen, um nicht selbst ranzumüssen. Mieter empören sich mit dem Blick auf steigende Mieten und Nebenkosten über ihre nachlässigen Vermieter. Die wiederum geben den säumigen Winterdiensten die Schuld. Einfach mal selbst zu Schaufel und Granulatsack greift kaum jemand. Aus Prinzip riskieren wir lieber unsere eigene Gesundheit und die unserer Nachbarn. Vorbildlich dagegen die wenigen Ladeninhaber, die es als Service an ihren Kunden ansehen, ihnen einen sicheren Weg zu bahnen. Das sind übrigens meist dieselben, die mit Zäunchen und kleinen Beeten um Straßenbäume passiven Widerstand gegen rücksichtslose Hundehalter leisten. Solche privaten Initiativen bieten Ansätze einer funktionierenden Kiezgemeinschaft. Sie verdienen Ermunterung von allen Seiten. Initiative braucht Motivation. Es muss ja nicht gleich Aktion „Goldene Hausnummer“ sein oder der sozialistische Subbotnik.

Vielleicht aber braucht es in Berlin für ein Umdenken erst die Eskalation. Nach Wochen wurde der Aufschrei über die vereisten Gehwege so laut, dass jetzt endlich etwas passiert. Übertragen auf das Hundekotproblem hieße das, die Stadtreinigung ließe die Haufen, die sie normalerweise wegschafft, einfach liegen. Bis es einer Mehrheit der Berliner und nicht nur uns wenigen Spießern so richtig stinkt. Womöglich sogar Wowereit.

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